Team jameda
Schnell, mit großer Kreativität und mit Ideenreichtum haben wir gelernt, die Erfüllung des Menschheitstraums von einem langen Leben anzunehmen. Doch das ist nur die eine Seite. Mit der anderen, mit den problematischen Folgen steigender Lebenserwartung, tun wir uns wesentlich schwerer. Hier reagieren wir noch immer überwiegend mit Verdrängung, wo wir uns doch um Zuwendung bemühen sollten. Weil wir zwar immer älter werden wollen, uns aber scheuen, alt zu sein, das rüstige Alter gern mit konservierter Jugend verwechseln, neigen wir dazu, alles auszublenden, was uns daran erinnern könnte, dass das Alter nach wie vor mit Beschwerden und Verfall belastet sein kann. Nirgends wird diese Unsicherheit, das egozentrische Ausweichen vor der Realität, deutlicher als in unserem Verhältnis zur Demenz. Weil wir nicht wissen, wie wir diesem geistigen Verfallen, dieser Form des langsamen Wegtretens begegnen sollen, weil sich die Krankheit weder mit Medikamenten besiegen noch wegoperieren lässt, weil sie unseren Traum vom unbeschwerten Alter stört, weil der Verlauf der Demenz so unbegreiflich scheint, reagieren wir verunsichert und nur allzu oft mit der Ausgrenzung derer, von denen wir meinen, sie nicht weiter erreichen zu können.
Dabei geht es hier längst nicht mehr um wenige tragische Einzelfälle wie den des Schriftstellers Walter Jens, von dessen Schicksal wir wohl auch nie erfahren hätten, wenn er nicht einmal zu den wortmächtigsten Intellektuellen unseres Landes gehört hätte. Nein, die Demenz ist längst zu einem gesellschaftlichen Problem geworden, dem wir uns als solchem stellen müssen. 1,1 Millionen Demenzkranke leben zurzeit in Deutschland, zwei Drittel davon leiden unter der Alzheimer Krankheit. 250.000 Neuerkrankungen werden jährlich registriert. Zurückzuführen ist dieser steile Anstieg der Fallzahlen überwiegend auf die steigende Lebenserwartung, während das Erkrankungsrisiko innerhalb der Altersgruppen weitgehend konstant geblieben ist. Das heißt, der Anteil der Erkrankungen steigt überproportional mit dem Alter. Weniger als drei Prozent der Dementen sind jünger als 65 Jahre. Zwei Drittel haben dagegen das 80. Lebensjahr vollendet.
Was da im Zuge der weiteren demographischen Entwicklung auf uns zukommt, kann man sich leicht ausmalen, zumal wenig dafür spricht, dass wir in absehbarer Zeit über wirksame Heilmethoden verfügen könnten. Ist doch nicht einmal klar, worum es sich bei den verschiedenen Formen der Demenz handelt. Haben wir es mit organischen Veränderungen des Gehirns zu tun oder sind womöglich toxische Einflüsse entscheidend? Gibt es genetische Ursachen oder ist die Demenz am Ende gar eine Schutzfunktion, mit der sich unser Gehirn vor Überlastung zu retten sucht? Ist die Krankheit ein Zufluchtsort, an dem sich die überforderte Persönlichkeit, die erschöpfte Seele in der Not verschanzt? Auch wenn man sicher nicht soweit gehen darf wie Tilmann Jens, der seinem Vater Walter Jens unterstellt, dass er dement geworden sei, um nicht länger die Verantwortung seiner geleugneten Vergangenheit als jugendlich temporärer Parteigänger des NS-Regimes tragen zu müssen, sind doch psychische Ursachen für die Erkrankung nicht von vornherein auszuschließen.
Nur wenn wir den ganzen denkbaren Ursachenkomplex im Blick haben, werden wir schließlich auch zu anderen Formen des Umgangs mit dieser Krankheit finden. Keinesfalls können wir ihr weiter mit peinlich berührtem Wegsehen begegnen. Vielmehr gilt es, auch die Demenz als eine Form menschlichen Alterns zu begreifen, zu erkennen, dass die Betroffenen ein Recht haben, ihr Leben, wie immer sie es erfahren mögen, in Würde weiterzuführen, und zwar nicht ausgeschlossen, weggesperrt, sondern in der Gemeinschaft mit denen, die das Glück haben, gesund zu altern. Hierzu gehört ein liebe- und verständnisvoller Umgang mit den Kranken daheim in der Familie sowie in den Pflegeinrichtungen – ein Umgang, wie wir ihn uns selbst auch wünschen würden. Hier aber hat das Gesundheitssystem, hier haben wir bisher versagt. Oft werden Demente einfach ruhiggestellt, vielfach emotional misshandelt. Die wenigsten erfahren wohl eine so verständige Betreuung wie Walter Jens durch seine Frau Inge. Allzu oft kommt es zu dramatischen Zuständen, wenn überforderte Angehörige einen Demenzkranken in ein Krankenhaus bringen, wo dann wieder überforderte Ärzte, Pfleger, Schwestern falsch reagieren, weil sie alle zusammen nicht über die nötige Ausbildung verfügen.
Hier besteht ein Nachholbedarf, den wir nicht länger übersehen dürfen. Denn nach allem, was wir heute sagen können, wird die Demenz eine der großen Herausforderungen unserer Zukunft werden, medizinisch, gesellschaftlich und moralisch, eine Nagelprobe, bei der sich beweisen wird, inwieweit wir fähig sind, das Glück längeren Lebens zu tragen.
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