Weltweit hat sich für Herzfrequenzvariabilität (auch Herzratenvariabilität) die englische Bezeichnung „heart rate variability, HRV“ etabliert. Die HRV lässt sich am besten an einem Beispiel erklären. Fühlt man bei sich selbst den Puls z. B. am Handgelenk oder am Hals und zählt in genau einer Minute 60 Pulswellen könnte man auf die Idee kommen, dass zwischen zwei Herzschlägen genau 1 Sekunde liegt. Das ist aber bei einem gesunden Menschen nicht der Fall. An dieser Stelle eine praktische Übung: Zu Beginn den eigenen Puls tasten und ein Gefühl für die Pulsrate bekommen. Dann ganz tief einatmen, kurz den Atem anhalten und auf die Pulsrate achten. Danach ganz ausatmen, innehalten und wieder auf die Pulsrate achten. Beim Einatmen wird der Puls schneller und beim Ausatmen deutlich langsamer. Die Beschleunigung und Verlangsamung des Pulses bei Ein- und Ausatmung ist das Ergebnis einer sehr empfindlichen Regulierung, die auf kleinste Veränderungen anspricht.
Die Abstände zwischen zwei Herzschlägen sind also immer unterschiedlich. Der Unterschied beträgt bei jungen Menschen in körperlicher Ruhe bis zu plus/minus 150 Millisekunden. Mit langjähriger Übung kann man diesen Unterschied fühlen - so wie die alten chinesischen Ärzte. Für sie war die Beurteilung des Pulses ein sehr bedeutendes Kriterium zur Einschätzung von Krankheit und Schwäche und sie erkannten dass ein sehr regelmäßig schlagendes Herz ein ungünstiges Zeichen ist. „Wenn der Herzschlag so regelmäßig wie das Klopfen des Spechts oder das Tröpfeln des Regens auf dem Dach wird, wird der Patient innerhalb von vier Tagen sterben“, schrieb ein chinesischer Heilgelehrter vor über 1700 Jahren. Dramatisch und in dieser Form heute nicht mehr vorstellbar. Anders ausgedrückt: Je größer die zeitlichen Unterschiede (Variabilität) zwischen zwei Herzschlägen sind, desto günstiger. Heutzutage wird die HRV aus (Langzeit-) EKG- oder Pulskurven abgeleitet und mit statistisch erfassbaren Größen quantifiziert.
Eine hohe HRV ist Ausdruck einer guten Fähigkeit zur Anpassung der Körperfunktionen an schnell wechselnde Umweltbedingungen. Wie bei unseren Vorfahren vor 100.000 Jahren sind dies auch heute noch verschiedene Formen von Angriff, Flucht und Verteidigung einerseits, Wohlbefinden, Entspannung und Erholung andererseits. Die Anpassung erfolgt von Herzschlag zu Herzschlag immer wieder neu. Bei dauerhaft hohen körperlichen und seelischen Belastungen kommt es irgendwann zu einer reduzierten Anpassungsfähigkeit mit niedriger HRV. Leistungssportler beispielsweise, die ein überzogenes Training mit zu kurzen Erholungsphasen zwischen den Trainingseinheiten oder Wettkämpfen praktizieren, verringern damit ihre HRV. Die regelmäßige Messung der HRV kann daher dazu genutzt werden Trainings-, bzw. Belastungsempfehlungen in Abhängigkeit der individuellen Tagesform zu geben und damit die Leistungsfähigkeit optimal zu steigern.
Aber auch Erkrankungen, zu allererst des Herzens, führen zu einer Abnahme der HRV. Weiterhin findet sich eine niedrige HRV bei so genannten systemischen Erkrankungen die sich auf den ganzen Körper auswirken und damit auch das vegetative Nervensystem erfassen, wie beispielsweise die ‘Zuckerkrankheit’ (Diabetes mellitus). Die HRV kann sogar aus der Ableitung der Herztöne eines Kindes im Mutterleib errechnet werden und auf einen kritischen Zustand des Ungeborenen hinweisen.
Anhaltende seelische Belastungen führen zu einer spürbaren Veränderung in der Regulation unserer Körperfunktionen durch das vegetative Nervensystem. Dieser Steuerung kommt eine gewisse Mittlerrolle zwischen Psyche und Organfunktionen zu. Menschen die unter dauerhaftem psychischen Stress stehen - das betrifft insbesondere Menschen mit Depressionen - haben im Vergleich zu Gesunden oft eine höhere Herzfrequenz und eine eingeschränkte HRV. Hier zeigt sich sehr deutlich die Wechselbeziehung zwischen psychischen und körperlichen Phänomenen. Die eingeschränkte Anpassungsfähigkeit bei depressiven Erkrankungen macht sich gleichermaßen im Herz-Kreislaufsystem bemerkbar (siehe auch „Psychischer Stress und Blutgefäßalterung“ bei jameda). Damit steigt auch das Risiko für die Entwicklung einer Herz- oder Gefäßerkrankung, für Herzinfarkt und Schlaganfall. Im Rahmen von verhaltensmedizinischen Vorsorgeprogrammen kann die Messung der HRV daher eine sinnvolle Ergänzung der Früherkennung sein. Personen mit einem erhöhten Risiko könnten frühzeitig zu Lebensstil-verändernden Maßnahmen wie Gewichtsreduktion, sportliche Aktivität und Nikotinverzicht motiviert werden.
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