Team jameda
Suchterkrankungen im Alter sind oft ein Tabuthema, aber leider keine Seltenheit. Jeder dritte Mann zwischen 65 und 79 Jahren konsumiert Alkohol in gesundheitsschädlicher Weise. Warum das so ist und was Betroffene tun können, wollte jameda von Dr. Behrendt wissen, die an der TU Dresden an einem Forschungsprojekt zu Alkoholproblemen im Alter arbeitet.
jameda: Rund sechs Prozent der Bewohner von Altenheimen zeigen Symptome einer alkoholbezogenen Störung, 14 Prozent erfüllen die Diagnosekriterien eines Alkoholmissbrauchs. Warum sind diese Zahlen so hoch?
Dr. Behrendt: Das kann daran liegen, dass ein hoher Alkoholkonsum auf lange Sicht mit einem erhöhten Risiko für eine Vielzahl körperlicher Erkrankungen und Folgeschäden verbunden ist. Man muss allerdings beachten, dass diese Zahlen zwischen einzelnen Einrichtungen durchaus variieren.
jameda: Früher waren weniger Senioren alkoholkrank. Warum hat sich das Problem in den letzten Jahrzehnten verschärft?
Dr. Behrendt: Der problematische Alkoholkonsum älterer Menschen hat an gesellschaftlicher Bedeutung gewonnen, weil der Anteil älterer Menschen in den westlichen Industrieländern wächst. Außerdem altern nun Jahrgänge, die im jüngeren und mittleren Erwachsenenalter einen stärker ausgeprägten Alkoholkonsum aufgewiesen haben.
jameda: Vor allem ältere Menschen verdrängen häufig, dass sie ihren Alkoholkonsum nicht mehr unter Kontrolle haben. Wie könnte eine Feuerprobe für Betroffene aussehen, um sich selbst Gewissheit zu verschaffen?
Dr. Behrendt: Von „Feuerproben“ rate ich dringend ab. Es kann lebensgefährlich sein, den Alkohol plötzlich wegzulassen, wenn man vorher über längere Zeit intensiv getrunken hat. Wer nach längerem und intensivem Alkoholkonsum aufhören oder reduzieren möchte, sollte in jedem Fall einen Arzt zu Rate ziehen. Wenn man herausfinden möchte, ob der eigene Alkoholkonsum problematisch geworden ist, kann man sich zunächst zum Beispiel folgende Fragen stellen: Habe ich das Gefühl, dass ich den Alkohol brauche, beispielsweise zum Einschlafen oder zum Entspannen? Gibt es etwas, das nicht mehr ohne Alkohol funktioniert? Mache ich noch alles, was mir wichtig ist, oder vernachlässige ich manche Dinge aufgrund des Alkohols? Fühle ich einen Drang, zu trinken? Trinke ich mehr als früher? Wenn man sich Sorgen macht, kann man sich an eine Suchtberatungsstelle wenden.
jameda: Viele Senioren leiden unter Schmerzen oder Einsamkeit. Der Griff zur Flasche dämpft die negativen Gefühle allerdings nur kurzfristig ab und kann zur Alkoholsucht führen. Wie gehen Betroffene besser mit typischen Problemen des Alters um?
Dr. Behrendt: Diese Frage muss natürlich individuell beantwortet werden, da die Lösung stark von den persönlichen Vorlieben und Möglichkeiten abhängt. Grob gesagt gibt es zwei Alternativen: Man kann versuchen, das Problem zu lösen oder die eigene innere Haltung zu verändern. Ein begeisterter Wanderer, der aufgrund einer Gehbehinderung nur noch schlecht laufen kann, könnte sein zweites Hobby, Schach, mehr als zuvor zu pflegen und in einen Schach-Verein eintreten, womit er Langeweile und Einsamkeit begrenzt. Aber er könnte den Verlust auch auf emotionaler Ebene verarbeiten, zum Beispiel indem er seine Erinnerungen an sein Hobby aufschreibt und dabei die Traurigkeit über den Verlust zulässt. Es ist empfehlenswert, sich Hilfe zu suchen, wenn man merkt, dass man ein Problem nicht lösen kann und vielleicht immer mehr dazu neigt, zu trinken.
jameda: Warum greifen die einen zur Flasche, während die anderen bessere Lösungen für ihre Probleme finden?
Dr. Behrendt: Hier spielen viele individuelle Faktoren eine Rolle. Das Ende des Berufslebens ist beispielsweise für viele ein großer Einschnitt. Aber der eine ältere Mensch erlebt es eher als Entlastung, während ein anderer unter dem Gefühl leidet, nicht mehr gebraucht zu werden. Auch die Lebensumstände sind wichtig. Alleinlebende Senioren haben häufiger einen problematischen Alkoholkonsum als die, die in einer Partnerschaft leben.
jameda: Wie viele Senioren kommen ohne professionelle Begleitung vom Alkohol los?
Dr. Behrendt: Es kommt häufig vor, dass es Menschen ohne professionelle Hilfe schaffen, ihren Alkoholkonsum zu reduzieren. Wenn die Betroffenen aber merken, dass es allein nicht geht, ist es ratsam, sich Hilfe zu holen.
jameda: Ältere Alkoholabhängige galten lange als nicht therapierbar. Mittlerweile weiß man, dass die Erfolgschancen einer Therapie genauso hoch wie bei jüngeren Betroffenen sind. Sind die Erfolgsaussichten mit den speziell auf die Bedürfnisse von Senioren abgestimmten Therapien, die Sie gerade erforschen, noch höher?
Dr. Behrendt: Leider kann ich dazu noch nichts sagen, da unsere Studie derzeit noch läuft. Es stimmt aber, dass ältere Menschen vergleichbar große Erfolgschancen in der Therapie haben wie jüngere. Es ist also falsch, zu sagen: „Er ist alt, er kann seinen Alkoholkonsum sowieso nicht mehr ändern.“
jameda: Wie sieht eine auf Senioren abgestimmte Suchtbehandlung aus?
Dr. Behrendt: Grundsätzlich geht es um dieselben Themen wie in der Therapie von jüngeren Betroffenen, zum Beispiel um die Frage, wie man mit Verlangen nach Alkohol umgehen kann. Aber bei älteren Menschen müssen natürlich auch die Lebenssituationen berücksichtigt werden. Viele leiden beispielsweise unter Einsamkeit, nachdem der Partner gestorben ist, oder unter Langeweile, weil sie aufgrund einer Erkrankung ihren Hobbies nicht mehr nachgehen können.
jameda: Viele Senioren vertragen Alkohol nicht mehr so gut wie früher. Wo sollte ihre Obergrenze sein?
Dr. Behrendt: Frauen sollten nicht mehr als 12 Gramm und Männer nicht mehr als 24 Gramm reinen Alkohol am Tag trinken – das entspricht ungefähr einem Glas bzw. zwei Gläsern Bier á 250 ml. An zwei Tagen in der Woche sollte man außerdem ganz auf Alkohol verzichten. Diese Regel ist aber nicht speziell an ältere Menschen angepasst, die bei gleicher Alkoholmenge höhere Blutalkoholkonzentrationen erreichen als jüngere. Eine allgemein gültige Obergrenze gibt es nicht. Die Regel greift auch nicht bei Kranken, die Medikamente nehmen. Außerdem sollte man natürlich in bestimmten Situationen gar nicht trinken, zum Beispiel, wenn man Auto fährt.
jameda: Jeder dritte über 65-Jährige nimmt täglich fünf oder mehr Wirkstoffe ein. Medikamente wie Schlaf- und Beruhigungsmittel können allerdings schädliche Wechselwirkungen hervorrufen, wenn die Patienten Alkohol zu sich nehmen. Wird dieses Problem oft unterschätzt?
Dr. Behrendt: Alkohol gilt in unserer Gesellschaft gemeinhin als ganz normales Genussmittel. Für viele ältere Menschen gehört er seit Jahrzehnten zum Alltag dazu. Das kann dazu führen, dass man erst einmal nicht daran denkt, den Konsum anzupassen, weil man Medikamente einnimmt.
jameda: Es heißt, die beste Hilfe ist, nicht zu helfen, wenn Angehörige eine Alkoholsucht bei einem Familienmitglied vermuten. Können Betroffene wirklich nichts tun?
Dr. Behrendt: Die Verantwortung, den Alkoholkonsum zu verändern, liegt ganz klar bei dem Betroffenen selbst. Helfen können Angehörige und Freunde aber durchaus. Sie können den Betroffenen auf das Problem ansprechen. Dabei ist es wichtig, auf Kritik, Vorwürfe und Vorgaben zu verzichten und stattdessen die eigene Sorge um den anderen zu äußern. Wenn der Betroffene etwas ändern möchte, kann man ihn ganz konkret fragen, welche Unterstützung er sich wünscht. Viele möchten zum Beispiel, dass ihnen kein Alkohol mehr angeboten wird. Wichtig ist, dass Angehörige sich selbst nicht aus den Augen verlieren. Viele Suchtberatungsstellen bieten deshalb auch Hilfe für Angehörige an.
jameda: Vielen Dank für das Interview!
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