Artikel 22/01/2019

So hilft die Natur bei der Stressbewältigung

Dipl.-Psych. Stephanie Neuwald Psychologe, Heilpraktiker für Psychotherapie
Dipl.-Psych. Stephanie Neuwald
Psychologe, Heilpraktiker für Psychotherapie
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Im Alltag sind wir ständig von vielfältigen Stressoren umgeben. Ob Lärm und Hektik im Straßenverkehr, in der Arbeit, Schule oder zu Hause. Die Reize prasseln nur so auf uns ein und fordern eine Reaktion von uns. Immer bimmelt irgendwo ein Telefon. Smartphone, Computer und die Medien berieseln uns. Alles wird immer mehr, immer schneller. Ob privat oder beruflich, unsere Aufgaben wachsen sowie auch die Geschwindigkeit, mit der wir sie erledigen sollen.

Unser Gehirn ist die meiste Zeit des Tages einer Flut von Reizen ausgesetzt, die es filtern und verarbeiten muss. Aber nicht nur von außen stürmt viel auf uns ein. Wir bereiten uns durch Leistungsansprüche oder Grübeln von innen selbst Stress. Wir machen uns viele Gedanken und Sorgen, versuchen alles unter einen Hut zu bekommen und fühlen uns oft unter Druck gesetzt.

Die Zeit ist oft ohnehin schon knapp, das Geld meist auch. Da sollten Hilfsmittel gegen Stress möglichst einfach, günstig und leicht in den Alltag integrierbar sein. Da stellt sich die Frage:

Was kann ich gegen Stress tun?

Geh in die Natur!

Eines der effektivsten Mittel gegen Stress ist Mutter Natur. Wie eine echte Mutter gibt uns die Natur alles, was wir für ein gesundes Leben brauchen. Sie versorgt uns aber nicht nur mit Nahrungsmitteln. Sie bietet uns auch eine der effektivsten Erholungsquellen. Mit ihrer stillen Kraft hilft sie uns, in unserem hektischen Alltag gesund zu bleiben und uns wohl zu fühlen. Zeit im Wald, am Wasser, in den Bergen oder am Meer zu verbringen, hilft uns, Stress abzubauen, zu entspannen und neue Kraft zu tanken.

Viele Menschen spüren das ganz intuitiv. Aber auch die Forschung der letzten Jahren weist darauf hin. Sie zeigt in vielen Studien immer mehr, wie wichtig und wirksam Naturkontakt für unsere seelische und körperliche Gesundheit ist. In Japan gibt es dafür einen eigenen Begriff, das ‘Shinrinyoku’ oder „Waldbaden“, was dort eine anerkannte Stressmanagement-Methode ist. Es gibt dort auch den psychologisch-medizinischen Forschungs- und Therapiezweig „Waldmedizin“.

Die Wissenschaft bestätigt also unser subjektives Empfinden. Viele Studien belegen, dass negative Gefühle wie Ärger, Stress und Angst reduziert werden. Angenehme Gefühle wie Freude, Wohlbefinden und Leichtigkeit können erzeugt und gesteigert werden, wenn wir Zeit in der Natur verbringen. Dabei entstehen Gefühle der Entspannung, innere Freiheit und innerer Frieden. Wohlbefinden stellt sich ein, negative Gedanken reduzieren sich und wir bekommen sozusagen den Kopf frei. Es entsteht innerer Freiraum, in welchem neue Sicht- und Bewertungsweisen aufkommen können.

Warum der Naturkontakt so wichtig für unsere Gesundheit ist.

Eine Studie von Bratman et al. von der Stanford Universität zeigt, dass Spazierengehen in der Natur signifikant das Grübeln, also einen Hauptrisikofaktor für Depression, reduziert. Auf körperlicher Ebene senkt Naturkontakt Blutdruck, Puls, Muskelspannung und die Produktion von Stresshormonen. Außerdem stärkt er das Immunsystem und fördert eine schnellere Heilung bei bestehenden Krankheiten.

Weitere Studien zeigen, dass Natur Stimmung und Selbstwert hebt. Beides sind wichtige Faktoren für die psychische Gesundheit und Resilienz, also die Widerstandskraft gegen Stress.

Schon 5 Minuten reichen zum Stressabbau.

Eine Studie der Universität Essex zeigt, dass schon fünf Minuten Spazierengehen, Gartenarbeit oder Angeln Stimmung und Selbstwertgefühl deutlich heben. Dieser Effekt zeigt sich im Besonderen bei chronisch gestressten Menschen. Dr. Renate Cervinka von der Universität Wien konnte zeigen, dass dieser entspannende Effekt am stärksten ist, wenn Zeit in der Natur am Wasser verbracht wird.

Wie hilft uns die Natur?

Es gibt verschiedene Erklärungsansätze wie und warum die Natur so positiv auf Körper und Seele wirkt. Japanische Waldforscher gehen davon aus, dass die Duftstoffe, die Bäume aussenden, eine positive, entspannende Wirkung auf Körper und Geist haben. Sie erklären sich den Erholungseffekt aber auch durch die Faszination, die von Naturreizen ausgeht.

Naturreize lenken die Aufmerksamkeit vom Alltagsgeschehen und -Denken ab und bieten dem System die Möglichkeit, sich zu erholen und neu auszurichten.

Die „Attention-Restoration-Theorie“

Kaplan und Kaplan erklären die gesundheitsfördernde Wirkung der Natur dadurch, dass sie die Erholung von intellektueller Anstrengung fördert. „Direkte“ Aufmerksamkeit und Fokussierung, wie sie Autofahren oder PC-Arbeit erfordern, führen mit der Zeit zur Erschöpfung.

Damit wir uns von der Anspannung, die mit dieser Aufmerksamkeit einhergeht, erholen können, brauchen wie handlungsentlastende Räume. Diese bietet die Natur indem sie sanfte Anreize zur Aktivierung der sogenannten „indirekten“ Aufmerksamkeit gibt. Die „indirekte Aufmerksamkeit’ fordert keine Anstrengung und kann mit Faszination gleichgesetzt werden. Sie wird stimuliert, wenn man z. B. den Blick über eine schöne Landschaft schweifen lässt.

Die Natur stärkt den Körper und das Immunsystem.

Auf körperlicher Ebene aktiviert dieser Vorgang das parasympathische Nervensystem. Das ist der Teil unseres Gehirns, der für die Regeneration zuständig ist. So entsteht ein erholsamer Effekt, in welchem auch körperlich-regenerative Prozesse, wie Zellneubildung, Nährstoffaufnahme- und Umbau, aber auch das Immunsystem, optimal arbeiten können.

Die „Biophilia-Theorie“ des Evolutionsbiologen Edward O. Wilson besagt, dass die emotionale Verbindung zur Natur beim Menschen angeboren ist. Sie ist also ein Teil seiner genetischen Ausstattung. Die „Biophilie“, oder die Liebe zur Natur, hat der Mensch nach Wilson im Laufe seiner Evolutionsgeschichte erworben. Denn Menschen, die ihre natürliche Umgebung aufmerksam beobachten, auf sie eingehen und sich ihr anpassen, haben einen größeren Überlebensvorteil.

In der Natur fühlen wir uns sicher und wohl.

Auch der schwedische Professor Ulrich steuert eine Erklärung für die positive Wirkung der Natur auf den Menschen bei. Seiner „Psychophysiological-Stress-Recovery-Theorie“ zufolge geht der Effekt auf einen angeborenen Entspannungsreflex zurück, den das limbische System auslöst. Die entspannende Wirkung entfaltet sich, wenn eine Landschaft Sicherheit vermittelt. Welche Landschaft als sicher beurteilt wird, hat der Mensch im Laufe der Evolution gelernt.

Dies sind meist offene Landschaften mit geschwungenen Horizontlinien, die einen Wasserkörper enthalten. Diese idealtypische Landschaft hat Ähnlichkeit mit der ostafrikanischen Savanne, in der sich die menschliche Spezies entwickelt hat, weshalb dieser Erklärungsansatz auch „Savannen-Theorie“ heißt.

Besonders der Aspekt des Sicherheitsgefühls dürfte viel zum Entspannungseffekt der Natur beitragen. Die Natur bietet unseren Sinnen auf sanfte Art vielfältige, hauptsächlich ästhetische Reize. Schöne Farbkompositionen, Düfte, gleichmäßige Töne wie das Rauschen der Blätter im Wald oder das Wasserrauschen. All das signalisiert unserem Gehirn „keine Gefahr“, also „Sicherheit“ und die Spannung kann sich lösen.

Alle gleichförmigen, sanften Reize entspannen unser Nervensystem und Gehirn, da sie keine ständige Wachsamkeit fordern. Körper und Geist können loslassen und sich entspannen. Diesen Effekt können wir bei uns selbst beobachten, wenn wir aufs Wasser oder Meer schauen.

Der besonders entspannende Effekt von Wasser lässt sich von mehreren Seiten her erklären. Da unser Körper zu einem Hauptteil aus Wasser besteht, ist Wasser unser Grundlebenselexier. So sichert die Nähe zum Wasser aus evolutionspsychologischer Sicht das Überleben, schafft Ruhe und Sicherheit. Tiefenpsychologisch gesehen, erinnert uns die Nähe zum Wasser durch das sanfte Rauschen und Wogen an die Zeit im Mutterleib. Die Eindrücke erzeugen Geborgenheit und Wohlbefinden.

DerNaturkontakt ist wichtig zur Prävention und Behandlung von Krankheiten.

Zusammenfassend kann man sagen, dass Zeit in der Natur zu verbringen eine wichtige Ressource für die Prävention physischer und psychischer Erkrankungen ist. Der Naturkontakt nimmt bei der Behandlung bereits bestehender körperlicher und seelischer Probleme einen wichtigen Stellenwert ein. Dabei ist es gar nicht mal so entscheidend, wie lange man in der Natur ist. Studien zeigen, dass meist schon fünf Minuten täglich ausreichen, um diesen erholsamen Effekt für Körper und Seele zu erreichen.

Es muss auch nicht immer ein Wald oder See sein. Der Park um die Ecke oder der Garten kann schon ausreichen. Entscheidend aber ist, nicht mit verschlossenen Augen und Ohren durch die Natur zu gehen, sondern diese bewusst wahrzunehmen. Wenn wir uns täglich diese fünf Minuten nehmen, um in die Natur zu gehen, bauen wir Stress ab. Wir stärken unsere Widerstandskraft gegen Stress und unser Immunsystem. Und das, indem wir einfach nur Gräser, Blumen, Bäume oder Tiere beobachten und den Blick bewusst schweifen lassen.

Das bewusste Wahrnehmen der Natur ist der entscheidende Faktor.

Wir können Naturkontakt leicht und kostengünstig in unseren Alltag einbauen, indem wir z. B. die Mittagspause nutzen, um ins Grüne zu gehen. Das ist erholsamer als im Büro oder der Kantine zu bleiben. Außerdem können wir unsere Arbeitswege nutzen, um vielleicht noch einen Spaziergang durch den Park zu machen. Im Sommer können wir auf dem Heimweg am See einen Zwischenstopp einlegen oder uns ein Abendessen in der Natur gönnen.

Natürlich ist es auch möglich, Sport miteinzubeziehen und ihn bevorzugt im Grünen zu betreiben. Die Wochenenden sind ideal, um in die Natur zu gehen. Bei der Wahl unseres Urlaubs können wir darauf achten, in naturbelassene Gegenden zu fahren. Wir entlasten unser Gemüt, wenn wir ihre Ursprünglichkeit erkunden und nutzen und nicht nur im Hotel am Pool bleiben.

So können wir den Entspannungsfaktor der Natur aktiv nutzen.

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