Artikel 06/07/2023

Die Psychotherapie-Richtung für freiheitsliebende Pragmatiker

Britta Bettendorf Psychologe, Heilpraktiker für Psychotherapie
Britta Bettendorf
Psychologe, Heilpraktiker für Psychotherapie
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Jeder Psychotherapie-Schule liegt ein Menschenbild zugrunde: Eine Idee darüber, wie die menschliche Natur im Grunde nach ist. Diese Philosophie definiert, welche Annahmen und Ideen man darüber hat, wie Menschen so werden, wie sie sind, was Menschen motiviert und was die “eingebauten” Charakteristika von Menschen sind. Unterschiedliche Menschenbilder sind auch dafür verantwortlich, dass es unterschiedliche Herangehensweisen in der Psychotherapie und Beratung gibt.

In diesem Artikel möchte ich das Menschenbild der personzentrierten Psychotherapie vorstellen. Im Gegensatz zum Menschenbild der Verhaltenstherapie oder der Psychoanalyse, ist das der personzentrierten Psychotherapie ideal für freiheitsliebende, pragmatische Menschen. Für Menschen, die sich keine Diagnose anheften lassen möchten. Für Menschen, die sich in der Therapie nicht wie (kleine) Patienten fühlen wollen, sondern wie (große) Klienten - auf Augenhöhe mit dem Therapeuten.

Die verschiedenen Therapieansätze haben auch verschiedene Sichtweisen auf den Menschen

In den 50er und 60er Jahren kamen einige Psychologen auf die Bildfläche, die fanden, dass sich die damals vorherrschende Psychologie, namentlich die Psychoanalyse und der Behaviorismus, aus dem die Verhaltenstherapie kommt, nicht angemessen um die Menschen kümmert. Diese neue Psychologie wurde später als Humanistische Psychologie bekannt und auch als “dritte Kraft” bezeichnet – neben den beiden anderen großen Strömungen. Humanistische Psychologie ist der Begriff für die übergeordnete Richtung und umfasst außer der personzentrierte Psychotherapie noch andere Weiterentwicklungen wie z.B. die Gestalttherapie oder das Psychodrama.

Carl Rogers, der Begründer des personzentrierten Ansatzes, war einer der ersten, die eine neue Philosophie über den Menschen entwickelten. Diese Philosophie stand (und steht noch immer) in einem scharfen Kontrast zu den Philosophien der behavioristischen und psychoanalytischen Ansätze. Mehr noch: Die humanistische Psychologie ist bis jetzt die einzige, die mit einem Menschenbild angefangen und darauf dann Theorie und Praxis aufgebaut hat. Die anderen haben sich das Menschenbild erst später “angeschraubt”.

Zuerst also eine neue Philosophie über den Menschen, auf der dann eine Therapieform aufgebaut wurde. Nur überzeugte Therapeuten, die mit dieser Philosophie einverstanden sind, können mit dem personzentrierten Ansatz glücklich werden und wirksam arbeiten. Und Klienten sollten auch verstehen, was die verschiedenen Therapieschulen unterscheidet, damit sie sich bewusst für die entscheiden können, die ihren Wertvorstellungen entspricht. Rogers hat folgendes dazu gesagt:

“Man kann keine Psychotherapie machen, ohne die eigenen zugrunde liegenden Wertvorstellungen darzulegen und die eigene Sichtweise der menschlichen Natur. Meiner Meinung nach ist es auf jeden Fall besser, wenn diese zugrunde liegenden Werte offen und explizit sind, als wenn sie versteckt und implizit sind.”

Das Menschenbild in der personzentrierten Beratung und Psychotherapie

Das personzentrierte (oder auch humanistische) Menschenbild hat fünf wichtige Merkmale: Es ist phänomenologisch, humanistisch, holistisch, wachstumsorientiert und prozessorientiert.

1. Eine phänomenologische Theorie

Phänomenologie kommt von dem Wort “Phänomen” und ist eine philosophische Strömung. Diese Strömung vertritt die Ansicht, dass der Ursprung der Erkenntnisgewinnung nicht in Theorien liegt, sondern in unmittelbar gegebenen Erscheinungen – also in Phänomenen. Das bedeutet, dass in der Phänomenologie die Realität oder die Erkenntnis immer aus der subjektiven Erfahrung stammt.

Wenn man die Phänomenologie nun auf die Persönlichkeitstheorie anwendet, geht man davon aus, dass die Wahrheit im Individuum entsteht. Wahrheit ist nicht etwas, das von objektiven Beobachtern bestätigt werden muss oder kann. In einer phänomenologischen Theorie geht es also um meine Wahrheit in meiner Erfahrungswelt – nicht um die Wahrheit in der Welt. Es geht um das, was ich glaube, dass es existiert – nicht um das, was existiert.

Deshalb geht es personzentrierten Therapeuten auch darum, die persönliche Welt eines Klienten mit seinen Augen zu sehen. Es geht um die Erfahrung des Klienten, um seine Sichtweise. Hier unterscheidet sich die personenzentrierte Theorie z.B. stark vom Behaviorismus: Im Behaviorismus ist nämlich die einzig gültige Erfahrung die, die man von außen beobachten und messen kann.

2. Ein humanistischer Ansatz

Der Humanismus ist ebenfalls eine philosophische Strömung. Hierbei handelt es sich um eine Philosophie, die alles Übernatürliche ablehnt und sich in erster Linie auf Vernunft und Wissenschaft, Demokratie und menschliches Mitgefühl stützt. Der Humanismus betont die individuelle Freiheit, die persönliche Verantwortung, den freien Willen.

Er geht davon aus, dass es zwar viele Hindernisse und Einschränkungen für unsere Freiheit gibt – dass wir aber lohnende Anstrengungen machen können, um sie zu überwinden. Aus humanistischer Sicht ist die Menschheit verantwortlich für das, was sie geworden ist, und auch für das, was sie werden kann – eben weil die Menschen in erheblichem Maße selbst entscheiden können, wie sie sein wollen.

Es ist wichtig, die humanistischen Grundlagen von Rogers‘ Theorie zu verstehen, da Rogers sich gehen stark verankerte Vorstellungen der damaligen Zeit stellte. In den 50er Jahren war die Freudsche Theorie populär, nach der ein Mensch im Wesentlichen, von Natur aus und unausweichlich böse ist, fehlerhaft oder von selbst- und fremdzerstörerischen Trieben gesteuert. Die humanistische Psychologie lehnt diese Vorstellung ab. Rogers war bestrebt, eine radikal andere Sicht, eine positive Sicht der menschlichen Natur zu präsentieren. Eine Sicht, in der die Menschen zwar für destruktives Verhalten verantwortlich sind, aber nicht aufgrund eines angeborenen Fehlers oder einer „dunklen“ oder „schattigen“ Seite.

3. Eine holistische Theorie

Beim Holismus (= Ganzheitlichkeit) handelt es sich um die Vorstellung, dass ein komplexes System wie der Mensch mehr ist als die Summe seiner Teile. Man muss den Organismus als Ganzes untersuchen, um ihn zu verstehen. Viele kennen sicher auch die ganzheitliche Medizin. Hier ist ja die Idee, dass man zur Behandlung einer Krankheit nicht nur die physischen Symptome betrachtet, sondern den ganzen Menschen berücksichtigt, auch die psychologischen und sozialen Faktoren.

Rogers‘ Theorie war übrigens holistisch, bevor Holismus in Mode kam: Schon 1951 schrieb er, dass man einen menschlichen Organismus nicht verstehen kann, wenn man ihn in seine Bestandteile zerlegt. Diese Herangehensweise nennt man auch Reduktionismus; er ist, man ahnt es, das genaue Gegenteil vom Holismus.

4. Wachstumsorientiert

Die personenzentrierte Metapher für Genesung ist weder Heilung einer Krankheit noch Reparatur von etwas, das zerbrochen ist. Die personenzentrierte Metapher für Genesung ist auch nicht Neuprogrammierung oder Fehlersuche.

Stattdessen lautet die personzentrierte Metapher für Genesung: Wachstum. Wachstum oder Entwicklung zu einer neuen Seinsweise. Obwohl die Persönlichkeitstheorie im personzentrierten Ansatz durchaus erklärt, wie Dinge schiefgehen können, konzentriert sie sich auf die Entfaltung des Potenzials. Dies unterscheidet sie stark und gründlich von der Psychoanalyse sowie dem Behaviorismus.

5. Eine Prozesstheorie

Ein weiteres radikales Merkmal in Rogers Menschenbild ist die Annahme, dass die Persönlichkeit kein Zustand ist, sondern ein Prozess. Menschen befinden sich immer im Prozess. Sie befinden sich ständig in einer Entwicklung, sie sind niemals statisch oder festgelegt. Und obwohl der Prozess des Wachstums durchaus beschädigt werden kann, ist das Potenzial für Wachstum immer vorhanden.

In der personzentrierten Theorie ist der Mensch genau durch dieses Bedürfnis nach Wachstum motiviert. Er strebt nach Verbesserung und nach kontinuierlicher Entwicklung. Das Gegenteil dieser Sichtweise ist die Annahme, dass der Mensch defizitär motiviert sei, also nur dann motiviert, wenn er in seiner Umgebung einen Mangel feststellt oder eine Unzulänglichkeit.

Ein optimistisches Menschenbild, aber kein naives

Alles in allem ist leicht zu erkennen, dass der personzentrierte Ansatz ein optimistisches Menschenbild hat. Rogers hat das schlicht und ergreifend begründet mit den Beobachtungen, die er gemacht hat. Beobachtungen darüber, wie Menschen sind und wie Menschen nicht sind:

„Ich kann nicht erkennen, dass man die menschliche Natur gut beschreiben würde, wenn man Begriffe wie grundlegend feindselig, asozial, zerstörerisch, böse benutzt. Ich kann nicht erkennen, dass die menschliche Natur völlig ohne Form ist, oder eine Tabula rasa, auf die man alles schreiben kann, oder formbares Material, das man in jede beliebige Form bringen kann. Ich kann nicht erkennen, dass der Mensch im Grunde ein vollkommenes Wesen ist, das traurigerweise von der Gesellschaft entstellt und verdorben wird.

Nach meiner Erfahrung hat der Mensch Eigenschaften, die seiner Gattung eingebaut zu sein scheinen; und die Begriffe, die diese Eigenschaften für mich zu verschiedenen Zeiten immer wieder am besten beschrieben haben, sind: positiv, vorwärtsstreben, konstruktiv, realistisch, vertrauenswürdig.“

Für seine optimistische Haltung im Hinblick auf die menschliche Natur wurde Rogers oft kritisiert, als übermäßig idealistisch oder naiv bezeichnet. Diese Kritik beruht jedoch auf einem Irrglauben, das Rogers den Menschen als “grundsätzlich gut“ beschreibenwürde. Rogers hat allerdings nie geleugnet, dass Menschen die Fähigkeit haben zu destruktiven Handlungen oder antisozialen Gedanken. Er sah diese Fähigkeit aber gleichzeitig nicht als Beweis dafür, dass der Mensch grundsätzlich eine destruktive Natur hat. Die Psychoanalyse verfährt ebenso. Kurzum: Rogers hat nicht gesagt, Menschen sind immer gut. Er hat gesagt, Menschen haben das Potential dazu:

„Ich bin mir durchaus bewusst, dass Menschen aus einer Abwehrhaltung und aus Angst ein Verhalten an den Tag legen können, das unglaublich grausam, furchtbar destruktiv, unreif, verwerflich, asozial und verletzend ist. Einer der erfrischendsten und belebendsten Aspekte meiner Erfahrung ist jedoch die Arbeit mit solchen Menschen. In ihnen die starken, positiv ausgerichteten Tendenzen zu entdecken, die bei ihnen – wie bei uns allen – in den tiefsten Ebenen vorhanden sind.“

Für Rogers ist das entscheidende, wie die Menschen behandelt werden: Wenn man ihnen auf eine positive, respektvolle und empathische Weise begegnet (wie bei uns in der personzentrierten Beratung und Therapie), dann entwickeln sich die Menschen auch in eine positive, prosoziale Richtung.

Was diese Sichtweise von anderen unterscheidet, ist die Annahme, dass Menschen sich ganz natürlich und spontan in diese positive, prosoziale Richtung entwickeln können – wenn sie das richtige unterstützende Klima vorfinden. Sie müssen nicht “belehrt” oder “programmiert” werden, um sich so zu entwickeln.

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