Artikel 15/11/2023

Schwerer Bandscheibenvorfall: Versteifung oder Bandscheibenprothese?

David-Christopher Kubosch Orthopäde & Unfallchirurg, Wirbelsäulenchirurg
David-Christopher Kubosch
Orthopäde & Unfallchirurg, Wirbelsäulenchirurg

Die ersten Maßnahmen bei einem Bandscheibenvorfall sind konservative, interventionelle oder endoskopische Verfahren. Lassen sich Schmerzen und Lähmungen damit nicht beherrschen, gibt es zumindest an der Halswirbelsäule meist zwei Behandlungsoptionen: die chirurgische Versteifung (Spondylodese) und der Ersatz der erkrankten Bandscheibe durch eine Prothese. Welches Verfahren für den jeweiligen Patienten das richtige ist, muss gründlich überdacht werden.

Versteifungsoperationen haben sich in der Wirbelsäulenchirurgie schon lange bewährt. Mit dem festen Verbinden zweier Wirbelkörper lassen sich z. B. Instabilitäten und Schmerzen behandeln, die aufgrund von degenerativen Veränderungen, Verletzungen oder Tumoren der Wirbelsäule entstanden sind. Die Versteifung hat allerdings nicht nur Vorteile. Neben der für den Patienten z. T. unangenehmen Einschränkung der Beweglichkeit droht die sogenannte Anschlussdegeneration. Dabei handelt es sich um einen verstärkten Verschleiß der Bandscheiben, die über und unter den miteinander verbundenen (versteiften) Wirbelkörpern liegen. Schuld daran sind vor allem ungünstige Hebelwirkungen durch die veränderte Gesamtdynamik der Wirbelsäule.

Bandscheiben haben viele Aufgaben

Bandscheibenprothesen wurden entwickelt, um erkrankte oder geschädigte Bandscheiben zu ersetzen und dadurch eine Versteifungsoperation (Spondylodese) zu vermeiden. Weil die Bandscheibe viele Funktionen hat, ist ihr Ersatz keineswegs trivial. So soll die künstliche Bandscheibe Stöße dämpfen und eine gute Beweglichkeit des Wirbelsäulenbereichs ermöglichen, in dem sie eingesetzt wurde. Außerdem hofft man, durch die Beweglichkeit der Prothese die gefürchtete Anschlussdegeneration zu umgehen.

Zunächst hört sich dies erfrischend einfach an. Bandscheibe zerstört, Bandscheibe rausnehmen, Prothese einsetzen und fertig. Die Realität ist allerdings komplizierter. Denn sowohl mit der klinischen Erfahrung als auch mit der Entwicklung der Prothesen ist man noch nicht so weit wie beispielsweise bei den Hüft- und Kniegelenkprothesen.

So ergeben die Patientenstudien mit Bandscheibenprothesen noch kein einheitliches Bild bezüglich der Ergebnisse. Das könnte daran liegen, dass die Betroffenen in diesen Studien häufig sehr unterschiedliche Vorbedingungen aufwiesen, weshalb die Resultate nicht gut vergleichbar waren. Ein weiteres Problem bei der Bewertung der Bandscheibenprothesen ist die ungenügende langfristige Erfahrung. Denn auch wenn es dem Patienten die erste Zeit nach Implantation besser geht, ist das noch keine Garantie, dass das auch auf Dauer so bleibt.

Physiotherapeutin in mit dunklen, lockigen Haaren betastet den Rücken einer Patientin in weißem Shirt. Die Entscheidung zwischen Versteifung oder Bandscheibenprothese braucht eine hohe Expertise.

Risikofaktoren erkennen

Im Verlauf der Anwendung von Bandscheibenprothesen konnten Wirbelsäulenchirurgen jedoch eine Reihe von Faktoren identifizieren, die das klinische Ergebnis nach einem Bandscheibenersatz verschlechtern. Liegen solche Faktoren vor, wird von der Prothese abgeraten. An der Halswirbelsäule gelten deshalb folgende Kontraindikationen:

  • entzündliche Erkrankungen, Morbus Bechterew,
  • manifeste Osteoporose,
  • Tumoren,
  • Deformitäten der Wirbelsäule
  • Veränderungen durch Verletzungen,
  • fortgeschrittene Facettengelenksarthrose und
  • durch Wirbelsäulenoperationen ausgelöste Instabilitäten.

Auch bei der fortgeschrittenen Spondylochondrose (Spondylose) und bei der spondylotischen Myelopathie ist die Bandscheibenprothese nur in Einzelfällen eine Option. Häufiger wird hier zur traditionellen Versteifung geraten.

Ideale Patienten profitieren meist

Die vielen Kontraindikationen führen dazu, dass die Anzahl der passenden Kandidaten für eine künstliche Bandscheibe relativ klein ist. Positiv formuliert kann man die Voraussetzungen für ein gutes Gelingen so formulieren:

  • Es ist nur eine Bandscheibe betroffen.
  • Das betroffene Segment ist noch beweglich.
  • Die Facettengelenke sind intakt.
  • Die Bandstrukturen an der Rückseite der Wirbelsäule sind intakt.
  • Der zu füllende Zwischenraum zwischen den beiden Wirbelkörpern ist mindestens 3 mm hoch.

Implantiert man die Bandscheibenprothese nur bei den Patienten, die diese Bedingungen erfüllen, ist das Endergebnis mindestens ebenso gut wie bei der Versteifungsoperation. Zusätzlich profitieren die Operierten häufig von einer besseren Beweglichkeit. Ob langfristig das Risiko der Anschlussdegeneration sinkt, ist umstritten. Es mehren sich die Hinweise, dass bei dem Verschleiß der Nachbarschaft auch die genetische Veranlagung eine große Rolle spielt, die Versteifung also nicht alleine daran schuld ist.

Patienten, die nicht für die Bandscheibenprothese geeignet sind oder bei denen Kontraindikationen bestehen, zeigen in der Regel sehr gute Ergebnisse mit Versteifungsoperationen (auch Fusion genannt).

An der Lendenwirbelsäule wird meist abgeraten

Auch für die Lendenwirbelsäule (LWS) gibt es Bandscheibenprothesen. In diesem Bereich ist man jedoch noch viel zurückhaltender mit dem künstlichen Bandscheibenersatz. Die Leitlinien raten aufgrund unklarer Prognosen sogar eher davon ab. Einer der Gründe dafür ist, dass die LWS eine viel höhere Last zu tragen hat, das Einheilen also erschwert ist. Außerdem kann die durch die Implantation einer künstlichen Bandscheibe ausgelöste erhöhte Beweglichkeit die Rückenschmerzen sogar verschlimmern. Zudem ist der operative Zugang durch den Bauch viel schwieriger als der zur Halswirbelsäule. Es drohen bedeutend mehr Komplikationen.

Für die Empfehlung ist eine hohe Expertise erforderlich

Die Frage, ob einem Bandscheiben-Patienten mit einer Prothese oder einer Versteifungsoperation besser geholfen ist, muss daher immer individuell beantwortet werden. Dafür benötigt der behandelnde Arzt sowohl bezüglich der Bandscheibenprothetik als auch der Versteifungsoperation eine hohe Expertise. Seine Empfehlung richtet er schließlich nach den Beschwerden des Patienten sowie den Befunden der körperlichen Untersuchung und der Bildgebung. Beide Verfahren haben ihre Vor- und Nachteile – die jeweils sehr gut abgewogen werden müssen.

Quellen:

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Greitemann, B., Schmidt, R, Sk2-Leitlinie zur konservativen, operativen und rehabilitativen Versorgung bei Bandscheibenvorfällen mit radikulärer Symptomatik, 2021,_ AWMF online_, www.awmf.org

Glocker F. et al, Lumbale Radikulopathie, S2k-Leitlinie, 2018;_ Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.), Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie,_ www.dgn.org/leitlinien

Pitzen T, Drumm J, Berthold C, Ostrowski G, Heiler U, Ruf M (2018). Degenerative Halswirbelsäulenerkrankungen: Fusion vs. bewegungserhaltende Verfahren. Der Orthopäde 47: 467–473

Scholz, M., Pingel, A., Hoffmann, C. H., & Kandziora, F. (2018). Künstliche Bandscheibe HWS. Die Wirbelsäule, 2(04), 309-330.

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