Im Frühjahr kam eine Frau – sie arbeitet seit 18 Jahren als Abteilungsleiterin in einem größeren Konzern – zu einem Infogespräch in meine Praxis. Ich sollte helfen, sie von ihren Panikattacken zu befreien. Immer, wenn sie zur Arbeit fahre, schilderte mir die 48-jährige, bekäme sie plötzlich keine Luft mehr. Müsse sogar oft mit dem Auto rechts ranfahren.
Im Gespräch fällt schnell auf: Sie glaubt, nicht abkömmlich zu sein. Ständig, sogar im Urlaub, ist sie für ihre Mitarbeiter erreichbar. Sie schläft schlecht. Durch drei parallel laufende Projekte hat sie das Gefühl, nichts richtig zu schaffen. Oft denkt sie, dass sie alles selber machen müsse. Ihr sehr hoher Anspruch an sich selbst und ihre Mitarbeiter hindern sie daran, Aufgaben zu delegieren.
Viele Jahre ging das gut. Der unweigerlich auftretende Stress habe ihr nichts ausgemacht, sie sogar noch beflügelt. Seit ein paar Monaten habe sie jetzt aber eine neue Vorgesetzte, zu der das Verhältnis nicht gut ist. Statt Anerkennung hagelt es oft Kritik – selbst in Teammeetings werde über nichts anderes mehr gesprochen.
Ihre Fragen nach Burnout kommen recht schnell: Habe ich ein Burnout? Werde ich zu alt für diesen Job? Sie stellt gleichzeitig fest: „Meine Chefin treibt mich in den Wahnsinn!“.
Im Laufe der Sitzungen besprechen wir viele Aspekte ihrer Arbeit. Wir beleuchten wiederkehrende Situationen, die sie belasten. Kontinuierlich nähern wir uns dem Themenkreis des Neinsagens. Sich nicht abgrenzen zu können, scheint ihr großes Manko zu sein. Das unterstreicht die Patientin unaufhörlich: „Ich kann doch nicht Nein sagen! Ich muss doch für meine Mitarbeiter da sein. Auch wenn ich frei habe, sonst läuft der Laden nicht!“.
Die wichtigste Frage ist: „Welche Befürchtungen verknüpft sie mit einem Nein? Was könne aus ihrer Sicht denn im schlimmsten Fall passieren?“ Schnell wird klar, dass sie nicht nur bei der Arbeit gerne und oft Ja sagt. Auch im Privaten steht sie immer für alle parat. Sie ist ständig erreichbar, um auch hier für andere da zu sein. Schon ihre Mutter habe immer gesagt: „Ein gutes Mädchen ist fleißig, genügsam und für die Menschen da.“ Die Angst vor Ablehnung oder als Egoistin eingestuft zu werden, ist groß.
Nachdem das Bild der Patientin immer klarer wird, wird in den kommenden Gesprächen der Kern erreicht. „Wann haben sie denn das letzte Mal zu sich selbst Ja gesagt?“ Dieser Denkanstoß ist ihr persönliches Schlüsselerlebnis. Mit kleinen Übungen und Hausaufgaben zum Thema Neinsagen und Abgrenzung erkennt sie zunehmend, dass sie die Menschen sie nicht verurteilen, wenn sie auch einmal Nein sagt. Im Gegenteil, ihr Ja erhält mehr Gewicht und ist keine Selbstverständlichkeit mehr. Ihr Vertrauen zu sich selbst und zu anderen steigt. Auch der Mut, zum Beispiel bei der Arbeit. Sie delegiert jetzt Aufgaben, lässt Themen laufen und schaltet das Handy nach Feierabend aus.
Nach einigen weiteren Wochen werden auch andere Punkte wie verschiedene Organisations- und Beziehungsthemen, Zeitmanagement, Teamwork, Werte, Ziele und vieles mehr besprochen. Ja, sogar der Sinn des Lebens wird zum Thema.
Die Patientin betont später, sie habe die Orientierung und Einordnung gefunden, die ihr über Jahre abhandengekommen waren. Sie hat Kraft und Vertrauen zurückerlangt und ist sich ihrer Position in Familie und Beruf bewusst. Ihr wurde bewusst, „dass gute Mädchen auch Gutes für sich selber tun.“
Schön, wenn Patienten so die Praxis verlassen.
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