Artikel 26/02/2016

Wie die Psyche Übergewicht und Adipositas beeinflusst

Team jameda
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Die Psyche bestimmt mit, ob ein Mensch mit der entsprechenden Veranlagung Übergewicht entwickelt oder nicht. Sie leidet, wenn die Gewichtsreduktion fehlschlägt, und kann zum Gelingen einer Diät beitragen. Wie eng Psychologie und Adipositas verwoben sind, wollte jameda von Prof. Dr. Hilbert, Leiterin des IFB Adipositaserkrankungen, wissen.

jameda: Ob ein Mensch Übergewicht hat oder nicht, bestimmen nicht nur die Gene, sondern auch Psyche und Erziehung. Wie groß ist der Einfluss der Psyche tatsächlich?
Prof. Dr. Hilbert: Das ist schwer zu sagen. Zwillings-, Adoptions- und Familienstudien haben ergeben, dass der Einfluss der Gene und auch der Umwelt - einschließlich Psyche - auf das Körpergewicht 30 bis 70 Prozent beträgt. Wir sind aber noch weit davon entfernt, zu verstehen, wie sich Adipositas genau entwickelt. Stress, Bewegungsmangel, familiäre Einflüsse, Konflikte und Schlafmangel spielen neben genetischer Veranlagung eine wichtige Rolle. Wer negative Gefühle mit Essen dämpft, sich schon als Kind daran gewöhnt hat, unkontrolliert zu viel zu essen oder ständig vor dem Bildschirm sitzt und sich wenig bewegt, entwickelt eher Übergewicht. Übergewicht und Adipositas gehen aber auch besonders häufig mit  geringer Bildung einher, vermutlich weil es dann an Gesundheitswissen fehlt.

jameda: Kann Übergewicht auch ein Zeichen einer überlasteten Psyche oder sogar einer psychischen Störung sein?
Prof. Dr. Hilbert: Ja. Nicht nur Stress ist wichtig, auch Depression ist erwiesenermaßen ein Risikofaktor für Übergewicht. Dasselbe gilt für die Binge-Eating-Störung, die durch wiederkehrende Essanfälle mit Kontrollverlust gekennzeichnet ist.

jameda: „Mach doch einfach Sport und ernähr dich gesünder!“ – So oder so ähnlich lauten die Ratschläge, die Übergewichtige von allen Seiten zu hören bekommen. Manche bemühen sich zwar täglich, diesen Anforderungen gerecht zu werden, verlieren aber trotzdem kein einziges Gramm. Wie gehen die Patienten am besten mit dieser frustrierenden Situation um?
Prof. Dr. Hilbert: Die Patienten sollten sich klarmachen, dass Adipositas eine chronische Gesundheitsstörung ist. „Einfach mal schnell abnehmen“ geht nicht. Eine Gewichtsreduktion sollte langfristig angelegt sein. Und dies setzt eine dauerhafte, häufig sogar lebenslange Veränderung der Ernährungs- und Bewegungsgewohnheiten voraus.

jameda: Das deutsche Schönheitsideal lässt nicht mit sich reden: Jung, braungebrannt und vor allem schlank soll man aussehen, um neidische Blicke zu ernten. Doch über die Hälfte der Deutschen ist zu dick, jeder fünfte leidet unter Adipositas, hat also einen BMI über 30. Wie wirkt sich das Wissen, dem Schönheitsideal nicht entsprechen zu können, von anderen vielleicht sogar gehänselt zu werden, auf die Psyche der Betroffenen aus?
Prof. Dr. Hilbert: Viele Betroffene haben starke Gewichts- und Figursorgen. Übergewichtige und adipöse Menschen werden ja in unserer Gesellschaft häufig abgewertet. Laut einer Studie fühlen sich adipöse Menschen etwa dreimal am Tag auf Grund ihres Gewichts stigmatisiert. Das dämpft die Stimmung und schwächt das Selbstwertgefühl. Rund 25 Prozent der Patienten übernehmen das negative Bild, das die Gesellschaft von Adipositas hat. Das kann bis hin zu Selbsthass oder Ekel vor sich selbst führen. Aber es gibt natürlich auch adipöse Menschen, vor allem Männer im mittleren Lebensalter, die sich sehr wohl in ihrem Körper fühlen. Für sie ist der Bauch ein Statussymbol.

jameda: Wie häufig leiden Übergewichtige unter psychischen Störungen, die durch Stigmatisierung ausgelöst wurden?
Prof. Dr. Hilbert: Adipöse Menschen haben im Vergleich zu normalgewichtigen Menschen ein leicht erhöhtes 1,4-faches Risiko, eine psychische Störung zu entwickeln. Vor allem extrem adipöse Patienten sind gefährdet: Menschen, die einen Body-Mass-Index über 40 kg/m2 haben, haben beispielsweise ein zehnfach erhöhtes Risiko, eine Binge-Eating-Störung zu entwickeln. Im Durchschnitt leiden 2% der Bevölkerung unter dieser Essstörung. Dennoch möchte ich betonen, dass die Mehrheit der Menschen mit Adipositas (ca. 70%) nicht unter psychischen Störungen leidet.

jameda: Welche psychotherapeutischen Ansätze haben sich als nützlich erwiesen, um Betroffene bei der Gewichtsreduktion zu unterstützen und psychischen Begleiterkrankungen besser zu begegnen?
Prof. Dr. Hilbert: Standardmäßig wird die sogenannte Multimodale Therapie der Adipositas angewandt. Dabei lernen die Patienten, ihr Verhalten zu ändern: Sie üben, ihr Ernährungs- und Bewegungsverhalten zu beobachten, sich realistische Ziele für eine Gewichtsreduktion zu setzen, ihre Kalorienaufnahme zu verringern, Bewegung zu steigern und individuelle Auslöser für Überessen zu identifizieren und zu bewältigen. Dadurch können Patienten über ein halbes Jahr hinweg rund fünf bis zehn Prozent ihres Gewichts verlieren, was zu einer Senkung von Blutzucker- und Blutfettwerten führt, also gesundheitliche Vorteile mit sich bringt. Allerdings wäre eine langfristige Nachbetreuung wichtig, um das reduzierte Gewicht zu halten. Aus Kostengründen wird eine solch umfangreiche Therapie allerdings kaum angeboten.

jameda: Gibt es neben der Standardtherapie weitere Verfahren, die adipösen Menschen helfen können?
Prof. Dr. Hilbert: Ein neuerer Ansatz rückt die Emotionsregulation in den Fokus: Die Patienten lernen dabei, ihre Gefühle besser wahrzunehmen und besser mit ihnen umzugehen. Ein anderer Ansatz unterstützt Betroffene vor allem dabei, neue Denkweisen zu erlernen, um effektiv abnehmen zu können, z. B. ihre Handlungen besser zu steuern, ausgewogene Entscheidungen zu treffen und Impulse zu regulieren. Selbstwirksamkeit und Motivation entwickeln sich. Dieser neue Ansatz, dessen Wirksamkeit gerade untersucht wird, wird Kognitive Remediationstherapie genannt.

jameda: Welche psychologischen Tricks helfen Patienten, die Kraft und das Durchhaltevermögen aufzubringen, um langfristig Gewicht zu verlieren?
Prof. Dr. Hilbert: Es ist wichtig, sich klar zu machen, dass Schwierigkeiten dazugehören. Allerdings sind die Probleme bei der Gewichtsreduktion sehr individuell: Der eine überisst sich beim Sonntagessen, der andere beim Grillabend. Deshalb gilt es, individuelle Lösungen zu finden. Mit Freunden zu sprechen, sich einer Selbsthilfegruppe anzuschließen oder den Partner einzubeziehen, kann auch hilfreich sein. Außerdem lohnt es sich, möglichst frühzeitig professionelle Hilfe aufzusuchen, bevor Begleiterkrankungen der Adipositas wie Diabetes mellitus Typ 2 oder Herzkreislaufprobleme auftreten.

jameda: Was können Betroffene tun, um ein positiveres Selbstbild zu erreichen?
Prof. Dr. Hilbert: Nicht jeder schafft es, sein Wunschgewicht zu erreichen oder zu halten. Deshalb ist es sehr wichtig zu lernen, sich selbst anzunehmen und sich in seiner Haut wohl zu fühlen - unabhängig vom Gewicht. Das gelingt Patienten zum Beispiel, indem sie das gängige Schlankheitsideal hinterfragen, sich vom Vorurteil, adipöse Menschen seien „faul, dumm, hässlich“ zu distanzieren und sich gegen Stigmatisierung wehren. Wertschätzung für den eigenen Körper oder zumindest für bestimmte Körperbereiche aufzubauen, verschiebt den Fokus und verbessert ebenfalls das Körper- und Selbstbild. Ein weiterer Effekt: Menschen mit einem positiven Selbstbild sind erfolgreicher darin, Gewicht zu verlieren.

jameda: Vielen Dank für das Gespräch!

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