Team jameda
Um es vorweg zu sagen, ich bin dafür, dass der Anspruch des Menschen, von chronischen Schmerzen befreit zu werden, endlich gesetzlich verankert wird, und das nicht nur irgendwo am Rande, sondern im Grundgesetz. Die Sache ist zu ernst, um sie weiter dem Selbstlauf oder gesundheitspolitischem Händel um die Kosten zu überlassen. Immerhin geht es um ein Menschenrecht, um das wir ringen, soweit die Geschichte zurückreicht. Gegen den Schmerz haben unsere Vorfahren die Götter angerufen; für ein schmerzfreies Leben wird medizinische Forschung seit Jahrtausenden betrieben, selbst die Urvölker haben dazu schon Schädel geöffnet, Körperteile massiert oder Pflanzenextrakte genutzt. Die Ergebnisse, die dabei erzielt wurden, vor allem in der jüngeren Vergangenheit, haben uns heute in den Stand gesetzt, nahezu jeden Schmerz ausschalten oder zumindest stark lindern zu können.
Das Leiden unter chronischen Schmerzen insbesondere sollte der Vergangenheit angehören. „Sollte!“, so muss man leider sagen. Denn noch immer klafft eine erschreckend große Lücke zwischen den gegebenen Möglichkeiten der Behandlung und der Realität. Noch immer werden die verheerenden Auswirkungen des Schmerzes, die manifesten körperlichen wie die psychischen, verharmlost, kleingeredet, heruntergespielt. Und noch immer kommen dabei Argumente in Anschlag, die allesamt der grauen Vorzeit entstammen. Geradezu sprichwörtlich geworden ist die in schmerzhaften Situationen gern erteilte Ermahnung: Indianer kennen keinen Schmerz. Wir alle haben diesen Unsinn als Kinder zu hören bekommen, haben ihn mehr oder weniger verinnerlicht, mehr zumeist, als uns lieb sein mag. Wir alle sollten aber auch wissen, dass solche und ähnliche Appelle doch nur der tröstende, bisweilen martialische Notbehelf von Epochen waren, in denen man noch nicht über die Mittel und die Kenntnis verfügte, dem Schmerz medizinisch Herr zu werden.
Heute jedoch sind wir weiter. Niemand brauchte länger Zuflucht zu nehmen zu den Floskeln einer überholten Heldenrhetorik. Kein Patient müsste sich damit noch trösten; kein Arzt dem Leidenden damit weiterhin etwas vormachen. Dass dennoch so viele Menschen vergebens nach Befreiung von ihren Schmerz suchen, dass manche bis zum Tod hin leiden müssen und deshalb flehentlich um Sterbehilfe bitten, dass sie keine Chance haben, ihr Leben in Würde zu beenden, dass es aber auch immer wieder Behandlungen gibt, operative Eingriffe, die sich am Ende als völlig vergebens erweisen, das alles zeigt nur, wie sehr wir in überkommenen Denkmustern und Strukturen befangen sind, und zwar auf allen Ebenen: Die Kassen tun sich schwer mit der Finanzierung spezieller, vor allem komplexer multidisziplinärer Schmerztherapien, weil ja jeder auch etwas „aushalten“ kann, zumal wenn es keinen direkten Nachweis organischer Ursachen gibt. Die Patienten sind dann entsprechend verunsichert und die Ärzte oftmals so fachorientiert, auf ihre jeweilige Spezialisierung fixiert, dass sie das komplexere Schmerzgeschehen viel zu punktuell erfassen und gar nicht auf den Gedanken verfallen, Hilfe bei der unterdessen hochqualifizierten Schmerzmedizin im interdisziplinären Team zu suchen. Das Schattendasein, das diese vergleichsweise junge Fachrichtung noch immer führt, sagt ja an sich schon genug aus über den Zustand heutiger Schmerzbehandlung. Wo Zusammenwirkung angezeigt wäre, werden nach wie vor Erbhöfe verteidigt, gewiss in bester Absicht und in der Überzeugung, dem Patienten auf hergebrachte Weise helfen zu können. Nur ist das eben nicht genug, nicht, wenn es um den Schmerz geht.
Man muss bloß einmal an die Probleme der Rückenbehandlung denken, um sich das zu verdeutlichen. Wie oft kommt es hier zu vorschnellen Eingriffen, zu Bandscheibenoperationen oder gar zu Versteifungen, obwohl muskuläre Verspannungen (nicht selten psychisch bedingt) in der weitaus größten Zahl der Fälle die eigentlichen Schmerzverursacher sind. Dies herauszufinden erforderte aber zum Beispiel das Zusammenwirken des Orthopäden mit dem Osteopathen, dem Psychologen und dem Schmerztherapeuten oder doch wenigstens die Betrachtung der Fälle aus deren Perspektive. Stattdessen werden noch immer Röntgenbilder gemacht, die gar keine Anhaltspunkte für einen Bandscheibenvorfall zeigen können, weil das einfach die falsche Methode ist. Der Patient aber wird trotzdem operiert und behält am Ende viel zu oft seine Schmerzen; schlimmstenfalls kommen noch eine Instabilität und Vernarbungen hinzu.
In seiner holzschnittartigen Darstellung mag der geschilderte Ablauf resümieren, was bei der Schmerzbehandlung nur allzu häufig geschieht, weil jeder, in diesem Fall der Orthopäde, die Behandlung auf das eigene Fach beschränkt: Der Schmerz wird als Symptom einer körperlichen Krankheit begriffen, behebbar durch die Behandlung der einen Ursache. Was danach an Schmerz noch bleibt oder gar neu entsteht, ist Schicksal - und wird das immer weiter bleiben, wenn wir nicht lernen, dem vielfach komplexeren Schmerzgeschehen auch komplexer zu begegnen. Die Voraussetzungen dafür sind längst geschaffen, medikamentös wie von den Behandlungsmethoden her und mit einem multikulturellen Wissensschatz aus Jahrtausenden medizinischer Behandlung. Man muss nur anfangen, die Erkenntnisse der verschiedenen Fachrichtungen zusammenzunehmen, konzentriert auf eine Behandlung, die den Schmerz als solchen ernst nimmt und seiner Behandlung mehr Bedeutung beimisst als der Pflege eigener Spezialisierung. Die Patienten können das verlangen, sie haben einen Anspruch darauf. Weil der medizinische Fortschritt die Voraussetzungen dafür geschaffen hat, weil wir heute alte und neue Erkenntnisse wie etwa moderne Schmerzmedikation mit Akupunktur, Nervenverödung mit Massagen oder Wärmebehandlungen und auch psychosoziale, pflegerische und seelsorgerische Therapieansätze zusammenfügen können, dürfen wir im Bedarfsfall auch das Recht auf die Befreiung vom Schmerz einfordern, erst recht im Endstadium einer schweren, zum Tod verlaufenden Erkrankung. Es geht hier um nicht weniger als ein Menschenrecht, dem auch das Grundgesetz im Interesse unserer Würde früher oder später wird genügen müssen. Ersparten wir uns damit doch nicht zuletzt manchen juristischen Schlagabtausch in der heftig geführten Diskussion um die Sterbehilfe. Das Thema ist virulent; wir müssen uns der Tatsache stellen.
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