Artikel 17/05/2009

Hand aufs Herz oder Fürsorge statt Katheter. Eine Diagnosekritik von Dietrich Grönemeyer

Team jameda
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Zu allen Zeiten haben die Künstler das Herz als leuchtendes Symbol des Lebens dargestellt, so auch in einer Handschrift aus dem 15. Jahrhundert, in der sich Bartholomäus der Engländer mit dem Wesen der Dinge befasste.’

Nicht jedes Herz, das schmerzt, muss gleich mit dem Herzkatheter untersucht und behandelt werden. Oft wäre dem Patienten allein schon mit der verständnisvollen Nachfrage geholfen. Kommt die Beklemmung der Herzen in vielen Fällen doch von dem, was auf den Seelen lastet, von Angst, negativem Stress und anderem psychischem Druck, von Irritationen, die kein Gerät aufzeichnen kann. Jeder oder fast jeder weiß das und neuere Studien haben es vielfach bewiesen. Die Ärzte allemal kennen den Zusammenhang, das Wissen darum gehört längst in den Bereich fachlicher Selbstverständlichkeiten, einerseits. Aber, so muss man andererseits fragen, wird dem in der alltäglichen Praxis auch immer Rechnung getragen, handeln wir auch danach? Oder sind wir - Hand aufs Herz – nicht allzu oft verführt, uns die vermeintlich sicheren Befunde vom Einsatz der Gerätemedizin zu versprechen? Setzen wir nicht lieber auf die Technik, als dass wir uns auf das langwierigere Gespräch einlassen, uns auf den wankenden Boden einer sehr persönlichen oder gar psychosozialen Untersuchung begeben, von der anscheinend keine messbaren Ergebnisse, keine eindeutigen „Daten“, keine harten Fakten zu erwarten sind? Und wird das nicht in einem gewissen Sinne sogar von den Patienten so erwartet? Ist es nicht so, dass ihr Vertrauen in die ärztliche Betreuung in dem Maße steigt, in dem sich der technische Aufwand der Behandlung erhöht? Und gilt das nicht umso mehr, wenn es um das zentrale Organ unseres Lebens geht, um das immerfort schlagende Herz?

Jeder Stich, jedes Rasen, jede Beklemmung, die wir da fühlen, weckt die Angst in uns. Unversehens geraten wir in Panik.  Wir sind alarmiert. Wir wollen die bestmögliche Hilfe und denken dabei zuerst an die technischen Errungenschaften der medizinischen Forschung. Geradezu mythische Erwartungen scheinen sich in aller Regel daran zu knüpfen.  Das ist die logische Konsequenz unseres Denkens in einer Epoche, die wie keine zuvor dominiert wird von den großartigen Erfolgen technischer Entwicklung. Was sie der Medizin gebracht hat, steht außer Frage; die Rettung unzähliger Menschenleben wäre ohne sie, ohne Röntgen, ohne Schnittbildtechnologie oder Herzkatheter undenkbar. Und dennoch birgt das Ganze, diese unbewusst wachsende Präferenz des technisch Machbaren in der Medizin, auch Gefahren in sich. Wo sie zur Fixierung wird, kann sie Irrtümern Vorschub leisten, gerade bei der Behandlung von Herzbeschwerden. Denn nicht jede Störung des Rhythmus, nicht alles Herzleiden lässt sich so nachweisen.  Moderne technische Diagnostik allein gibt keine absolute Sicherheit und muss stets eingebunden sein in die ganzheitliche Bewertung der Beschwerden durch den Arzt.

[caption id=‘attachment_1047’ align=‘alignleft’ width=‘218’ caption=‘In seiner berühmten Darstellung der ‘Kreidefelsen auf Rügen’ (1818) hat der Romantiker Caspar David Friedrich dem Himmelsausschnitt die Form eines Herzens gegeben. Harmonisch verbindet es Menschen und Natur im Zentrum des Gemäldes.’

Nicht bei jedem Patienten, der mit Herzstechen und Panikattacken ins Krankenhaus kommt, müssen das EKG oder die Katheter-Untersuchung auffällige Ergebnisse zeigen. Ganz abgesehen davon, dass es sehr oft angezeigter, auch kostengünstiger wäre, die schonende und ambulant durchzuführende Schnittbildtechnologie anzuwenden, weil so zum Beispiel eine Minderdurchblutung des Herzmuskels auch ohne Strahlenbelastung und die möglichen Komplikationen einer Herzkatheter- untersuchung zu beurteilen wäre – ganz abgesehen von solchen Einwänden, wird eben immer noch viel zu selten bedacht, dass das Herz, obwohl es selbst intakt ist, als Schmerzorgan reagieren kann.

Diese funktionellen Beschwerden, verursacht etwa durch negativen Stress, Angst oder Depression sowie durch Stoffwechsel- oder hormonell bedingte Regulationsstörungen, sind nach wie vor eine weithin unterschätzte Gefahr, deren technisch gestützte Fehldiagnose Krankheiten – nicht nur des Herzens – mit schlimmsten Konsequenzen nach sich ziehen kann.

Geradezu sprichwörtlich geworden ist in dem Zusammenhang der „Heldentod der Führungskräfte“, will sagen der Herzinfarkt stressgeplagter Manager. Unterdessen wissen wir allerdings, dass es heute gar nicht mehr die Manager sind, die diese traurige Statistik anführen.  Die Zahlen belegen vielmehr: das tödliche Herzinfarktrisiko eines Arbeiters am Fließband ist dreimal so hoch wie das seines gleichaltrigen Direktors. Überhaupt sind es mittlerweile die sozial benachteiligten Menschen aus unteren Schichten, die Gefahr laufen, einen Herzinfarkt zu bekommen,  weil sie sich weniger bewusst ernähren, seltener Sport treiben, häufiger übergewichtig sind, öfter rauchen und viel weniger selbstbestimmt leben. Chronischer Job Strain beispielsweise, also der emotional belastende Stress, am Arbeitsplatz nicht das in Selbstverantwortung realisieren zu können, was den eigenen Fähigkeiten und Wünschen entspricht, steigert das Risiko, eine Herzerkrankung oder gar einen Herzinfarkt zu erleiden, um ein Vielfaches. Ganz anders dagegen das Bild bei den Spitzenmanagern, die über die Jahre immer gesundheitsbewusster geworden sind. Manche von ihnen leisten sich inzwischen sogar ihren eigenen Fitnesstrainer. Andere schaffen es auch so, trotz vollem Zeitplan und Wirtschaftskrise noch regelmäßig Sport zu treiben und sich gesund zu ernähren, ihr Herz mit Vernunft zu schonen.

Dieser Vergleich soll nun aber keineswegs darauf  hinauslaufen, die eine gegen die andere Gesellschaftsschicht auszuspielen oder gar den persönlichen Fitnesstrainer zum gesellschaftlichen Ideal zu erheben und womöglich eine Neiddebatte zu entfachen. Darum geht es nicht. Zu verdeutlichen war nur eine Entwicklung, die zeigt, dass „unsere Herzprobleme“ vielfältige, nicht immer organisch bedingte und datenmäßig erfassbare Ursachen haben. Darüber müssen wir nachdenken, dem müssen wir ärztlich Rechnung tragen. Über 700.000 Herzkatheter-Untersuchungen pro Jahr allein in Deutschland (Tendenz steigend) sind zwar eine stolze, aber auch kritisch zu betrachtende Zahl, bedenkt man, wie viele therapeutische Gespräche, wie viele weiterführende Behandlungen dafür womöglich unterblieben sind. Die Herzkatheter selbst werden doch viel zu oft (in 70 Prozent der Fälle) nur diagnostisch und nicht auch therapeutisch, zur Erweiterung verengter Gefäße genutzt. Nachfolgende Bypass-Operationen werden notwendig, weil nicht minimal invasiv mit einer Herzkranzgefäßerweiterung zu einem früheren Zeitpunkt eingegriffen worden ist.

Gerade angesichts der Zunahme von Herzbeschwerden in den breiteren Gesellschaftsschichten muss eine Praxis alarmieren, in der eine Vielzahl der Patienten sozusagen technologisch abgefertigt wird, mit oftmals überflüssigen High-Tech-Untersuchungen. Das können wir uns auf Dauer nicht leisten, nicht als Gesellschaft und nicht als Ärzte. Denn: Jedes Herz, das schmerzt, braucht immer und zuerst menschliche Zuwendung; einen Katheter dagegen braucht es seltener.

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