Wird der Mensch mit einem Verlust konfrontiert, reagiert sein Organismus mit Trauer. Diese spontane, natürliche und selbstverständliche Reaktion bringt den Trauernden in tiefen Kontakt mit sich selbst. Er zieht sich in sich selbst zurück, um sich emotional mit der neuen Situation auseinanderzusetzen.
Dieser Heilungsprozess ist eine natürliche, menschliche Ressource. Sie ermöglicht dem Menschen, sich langsam auf die neue Ist-Situation einzulassen.
Diese kurze Phase erstreckt sich über wenige Stunden bis zu einigen Tagen.
Bei einem plötzlichen Todesfall kann sie bis zu einer Woche dauern. Sie steht für die Zeit, die der Hinterbliebene braucht, um den anfänglichen Schock zu verarbeiten, um aus dem Nicht-Begreifen-Können in die nächste Phase einzutreten.
In dieser Zeit wird der Trauernde im Wesentlichen von seinen Gefühlen übermannt. Wenn er sie zulassen kann, befindet er sich in einer äußerst wichtigen, emotionalen Achterbahnfahrt. Denn in dieser Zeit geht es um alle nur erdenklichen Gefühle wie z. B.
Es ist wichtig, alle Gefühle zuzulassen, um heilen zu können. Trauernde fühlen sich noch immer oft schuldig, wenn sie wütend oder zornig auf den Verstorbenen sind. Es sind Introjekte, die hier eine Rolle spielen wie „Man redet nicht schlecht über Tote.“
Diese Phase ist gekennzeichnet von Zukunftsängsten. Dem Trauernden wird bewusst, dass eine große Veränderung in seinem Leben unumgänglich ist (Der Verstorbene kommt definitiv nicht mehr zurück.) und Veränderungen machen vielen Menschen erst einmal Angst.
Die ersten Vorstellungen, wie es werden könnte, breiten sich zart in dem Trauernden aus. Kommt zu dieser Zeit Freude oder Hoffnung auf, stellt sich meist sofort die Scham mit ein. Es geht aber auch um die Angst, den Verstorbenen zu vergessen und natürlich um die Angst, wie die Umwelt reagiert.
Hat der Trauernde in dieser Phase die (innere und äußere) Möglichkeit, seine Ängste zu benennen, fällt es ihm leichter, dem natürlichen Trauerprozess zu folgen. In dieser Phase sind „gut gemeinte“ Ratschläge wie „Zeit heilt alle Wunden“ o. Ä. für den Trauernden von großer, hemmender Bedeutung. Er fühlt sich allein gelassen und zutiefst verunsichert, weil er hören, aber nicht fühlen kann, was Andere damit meinen und es ihn im Innersten einsam werden lässt.
In dieser Phase setzt sich der Trauernde mit seinen vorhandenen Ressourcen auseinander. Es geht darum zu erkennen, wie in der Vergangenheit schwierige Situationen bewältigt wurden. Dem Trauerden wird bewusst, was er gut kann, was ihm Mut macht und woraus er Kraft schöpfen kann. Zu dieser Zeit gibt es erstmals eine fühlbare Hoffnung, einen Weg für sich zu finden und nicht an dem Schicksal zu zerbrechen.
Diese Phase nehme ich als eine der schwersten und gleichzeitig wertvollsten Erfahrungen in dem gesamten Trauerprozess wahr. Trauernde leben in der Trauer, zugleich in der Beziehung zum Verstorbenen.
Sie beschäftigen sich mit Fragen wie
Hier wird sehr deutlich, dass die Beziehung keineswegs zu Ende ist, ganz im Gegenteil. Sie wird auf eine bestimmte Art geradezu intensiviert.
Trauernde ahnen schon von der ersten Phase an, dass sie sich von der gemeinsamen Realität mit der geliebten Person verabschieden müssen. Zugleich gibt es den intensiven Wunsch, den geliebten Menschen als inneres Gegenüber zu bewahren. Die Beziehung zwischen dem Hinterbliebenen und dem Verstorbenen kann als interaktiv beschrieben werden, obwohl der Verstorbene physisch abwesend ist.
Mit Kachlers Worten: „Trauernde können an den Verstorbenen nicht nicht denken und nicht nicht imaginieren und deshalb nicht nicht mit ihm kommunizieren.“
Der Trauerprozess dient an dieser Stelle dazu, dass der Trauernde seine ganz persönliche, für ihn stimmige Beziehung zum Verstorbenen findet. Diese Phase ist unumgänglich für eine vollständige Heilung.
Auch die „Archetypen“ in der Psychologie C. G. Jungs spielen bei der Trauerbewältigung eine Rolle. Jung 1875-1961 war ein Schweizer Psychiater und Begründer der analytischen Psychologie. Er beschäftigte sich mit Mythen, Märchen und Vorstellungsbildern aus unterschiedlichen Zeiten und Kulturen, die nicht voneinander beeinflusst worden waren. Durch sie gelangte er zu der Erkenntnis, dass Archetypen universell vorhandene Strukturen in der Seele aller Menschen sind.
Sie sind unabhängig von ihrer Geschichte und Kultur. Das Wort stammt aus dem griechischen archē und bedeutet „Ursprung“, „Ur- oder Grundprägung“. Manchmal werden Archetypen auch als Urbilder bezeichnet.
Sie beruhen auf den Urerfahrungen des Menschen, wie
Die Archetypen beeinflussen unbewusst unser Verhalten und unser Bewusstsein. Sie basieren auf den Instinkten und haben sich evolutionär im Sinne des „Survival oft the fittest“ entwickelt. Wenn ein archetypisches Verhalten unterdrückt wird oder in der Kindheit unterdrückt werden musste, um sich in dem System der Familie sicher und angenommen zu fühlen, kann sich daraus eine Neurose bilden.
Archetypische Tendenzen, die einen höchst heilsamen Einfluss ausüben können (sogenannte „Ent-Wicklungen“) verwandeln sich zu wahren Dämonen, wenn sie verdrängt werden (sogenannte „Ver-Wicklungen“).
Die vier Archetypen werden meist in Farben eingeteilt: Rot, Orange, Grün und Blau.
Findet ein Trauernder alle vier Archetypen ausreichend in sich vor, hat er sehr gute Voraussetzungen, einen heilenden Trauerprozess zu durchlaufen. Er muss sie dafür in ähnlichen Anteilen in sich vereinen.
Was kann jedoch passieren, wenn ein Archetyp ganz prägnant im Vordergrund steht und der Trauernde aufgrund seiner Lebensgeschichte keine oder nur sehr geringe Möglichkeiten hat, auf die anderen drei unterdrückten archetypischen Verhaltensweisen zurückzugreifen? Oder im Umkehrschluss stellt sich natürlich die Frage, wie verläuft ein Trauerprozess, wenn ein Archetyp nicht oder kaum ausgeprägt ist?
Jeder Mensch reagiert selbstverständlich anders auf die Nachricht über den Tod eines Nahestehenden. Dennoch ist es möglich, alle unterschiedlichen Reaktionen auf die vier Archetypen zu übertragen.
Trifft die Nachricht auf einen Menschen, dem alle vier Archetypen in ähnlicher Intensität zur Verfügung stehen, wird er alle oben erwähnten Phasen durchleben. Dabei gibt es keine Reihenfolge. Das könnte wie folgt aussehen: Der Hinterbliebene will die Nachricht nicht wahrhaben. Dringt sie jedoch für einen Bruchteil einer Sekunde in sein Bewusstsein, betrauert er den Verlust des Anderen. Außerdem kann er den Schmerz um den Selbstverlust empfinden.
Aber der Trauernde erlebt auch Sekunden oder Minuten der Erstarrung, bevor er sich beispielsweise schnell wieder ablenkt und/oder sich selbst betrauert. Schon in der ersten Phase wird deutlich, wie „gesund“ es wirkt, wenn alle Archetypen in Erscheinung treten. Aber auch, wie schwerfällig ein Trauerprozess beginnt, wenn nicht alle archetypischen Verhaltensweisen in dem Trauernden ausgeprägt sind. Es spielt dabei keine Rolle, welcher Archetyp die anderen überdeckt. Der Prozess wird weniger fließend sein.
Was genau bedeutet es nun für den einzelnen Menschen, wenn ein archetypisches Verhalten prägnant ausgeprägt ist?
In der 2.Phase wird der Trauernde mit einer Bandbreite von Gefühlen konfrontiert. Hat er alle vier Archetypen ausgeglichen in sich vereint, kann er sich ihnen stellen und sie intensiv ausleben. Das findet meist sehr gefühlsbetont statt.
So kann er z. B. die Nähe suchen, dann wieder braucht er Abstand zu Anderen und auch Abstand zu den Gefühlen, was ihn in so einem Moment gefühlsarm erscheinen lässt. Mal braucht er Ablenkung, zu einem anderen Zeitpunkt ist es richtig, sich den Erinnerungen an den Verstorbenen hinzugeben und die dazugehörigen Gefühle auszuleben.
Was aber bedeutet es für einen Menschen, wenn ein archetypisches Verhalten besonders im Vordergrund steht?
In dieser Phase hat der Trauernde die Aufgabe und die Chance, sich seinen Ängsten zu stellen. Stehen alle vier Archetypen zur Verfügung, hat er die Möglichkeit, alle oben genannten Ängste zu überprüfen und zu hinterfragen: Welche gehören zu ihm und wie kann/will er mit ihnen umgehen? Sie alle gehören in einen Trauerprozess und haben ihre Berechtigung, denn sie werfen die Fragen nach der zukünftigen Lebensgestaltung auf.
Optimaler Weise setzt sich der Trauernde damit auseinander, wie er mit der Trennung von dem Verstorbenen umgehen und wie er sich der Veränderung stellen kann. Er sucht nach Antworten, wie er zukünftig mit Nähe und Abhängigkeiten leben möchte und wie er es schafft, nicht in der Trauer zu verharren.
Was bedeutet es jedoch für den Trauernden, wenn eine archetypische Angst im Fokus steht?
Stehen dem Trauernden alle vier Archetypen in ähnlicher Intensität zur Verfügung, wird ihm mehr oder weniger schnell bewusst, dass ihn eine Bandbreite von Ressourcen durchs weitere Leben tragen wird. Er könnte zum Beispiel in der Erinnerung an frühere, schwere Zeiten feststellen, dass er sich auf seine Freundschaften, auf sein gutes Gespür, auf sein Durchhaltevermögen und seinen klaren Kopf verlassen kann.
Er wird erkennen können, dass ihn vergangene Probleme rückblickend immer auch etwas gelehrt haben, dass ihn sein Humor und seine Empathie durch konfliktbelastete Zeiten trugen. Auf den Trauerprozess übertragen bedeutet es: Tief in sich spürt er eine Kraft, die ihm auch immer wieder Zuversicht schenkt und nach vorne blicken lässt. Und zwar trotz der Schwere, der Traurigkeit und dem Schmerz.
Wie verhält sich aber ein Trauernder, der nur auf die Ressourcen eines Archetyps zurückgreifen kann?
Stehen alle vier Archetypen zur Verfügung, kann der Trauernde zu diesem Zeitpunkt seine ganz persönliche, für ihn stimmige Beziehung zum Verstorbenen finden und heilen.
Die roten und blauen Archetypen können die Realisierungsarbeit übernehmen. Das heißt, ihnen fällt es leichter, die äußere Abwesenheit, also die neue äußere Realität, anzunehmen.
Sie setzen sich mit den Abschiedsgefühlen wie Wut, Ohnmacht, Leere, Verzweiflung und Schmerz auseinander.
Die orangenen und grünen Archetypen arbeiten verstärkt an der inneren Beziehung zum Verstorbenen mit Beziehungsgefühlen wie: Mitgefühl, Sehnsucht oder Liebe. Diese Beziehungsarbeit stellt ein tröstliches Gegengewicht zu Ohnmacht, Leere und Verzweiflung dar und ist letztendlich für die Identität des Trauernden wesentlich.
Am Ende der Realisierungs- und Beziehungsarbeit wartet ein wunderbares Geschenk: die Möglichkeit, sich wieder dem Leben zuzuwenden, in all seiner Fülle!
Der Trauernde hat den Verstorbenen in sein Leben integrieren können. Er kann sich offenen Herzens der Zukunft stellen und darf sich an seinem inneren Wachstum erfreuen.
Was bedeutet es für Trauernde, wenn ein archetypisches Verhalten im Vordergrund steht?
Die zentrale Aufgabe der Trauerbegleiter ist es, den Klienten in seiner individuellen Trauer zu unterstützen und vernachlässigte, archetypische Verhaltensweisen im Blick zu haben. Damit ein Trauerprozess im besten Fall als ein wertvoller Wandlungsprozess erlebt werden kann, sollten in jeder Phase alle vier archetypischen Ausprägungen durchlaufen werden.
Dafür gibt es jedoch keine Reihenfolge. Auch ist es erwähnenswert, dass eine Phase zwar durchlebt sein, aber trotzdem zu einem späteren Zeitpunkt wieder präsent werden kann.
Ich bin der Meinung, dass der Trauerprozess kein „Sich-im-Kreis-Drehen“ ist, sondern ein spiralförmiges Vorankommen. Spiralförmig deswegen, weil sich der Trauernde in einem Prozess befindet und Prozess bedeutet: „ein über eine längere Zeit andauernder Vorgang, in dem sich ständig etwas verändert“.
Wenn der Trauernde also zu einer Phase zurückkehrt, tut er das in einem anderen Bewusstsein. Denn er ist nicht mehr derjenige, der er beim letzten Mal in dieser Phase war.
Ist ein vordergründig ausgeprägter Archetyp wahrnehmbar, gilt es, auf die individuelle Verhaltensweisen des Klienten Rücksicht zu nehmen.
Trifft die Nachricht über den Tod eines geliebten Menschen auf eine Person, die alle vier Archetypen in ausgeglichener Ausprägung in sich vereint, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie einen gelungenen Trauerprozess durchlaufen wird. In jeder einzelnen Phase hat sie die Möglichkeit, sich mit allem auseinanderzusetzen, was in dem Prozess notwendig ist.
Sind nicht alle Archetypen gleich ausgeprägt, verläuft der Trauerprozess anders. Das betrifft Personen, die (meist in früher Kindheit) lernen mussten, dass es dem Überleben nützlich ist, einen Archetyp besonders stark auszubilden. Dann ist der Trauerprozess von Beginn an erschwert oder wird sogar abgebrochen.
Im Folgenden formuliere ich mögliche archetypische Prozessverläufe, die vor allem von einem Archetyp geprägt sind.
Trifft die Nachricht auf eine Person, die lernen musste, einen Archetyp zu unterdrücken, sieht der Verlauf des Trauerprozesses wiederum anders aus.
Zusammenfassend kann ich sagen, dass je ausgeprägter ein einzelner Archetyp ist, umso prägnanter ist „das erste große Gefühl“, wie Verena Kast es formulierte. Folglich wird auch die Qualität des Trauerprozesses von dem einen Archetyp gekennzeichnet sein.
Sind jedoch alle Archetypen ähnlich stark ausgebildet, wird die erste Reaktion auf die Todesnachricht alle vier typischen Verhaltensweisen beinhalten. Daher wird auch hier schon deutlich, welchen umfassenden Verlauf der Trauerprozess wahrscheinlich nehmen wird.
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