Artikel 29/03/2018

Was "Nein"-Sagen mit Sucht und psychischen Erkrankungen zu tun hat

Team jameda
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Wissen Sie, was der häufigste Satz ist, den meine Patientinnen im ersten Gespräch äußern? „Ich kann einfach nicht ‚Nein‘ sagen.“ Die meisten wissen zwar, dass das auf Dauer nicht gesund ist. Aber der gesellschaftliche Druck ist so groß, dass es nicht immer einfach ist, zu den eigenen Wünschen zu stehen. Das hat viel damit zu tun, dass die heutigen Anforderungen an Frauen praktisch nicht mehr erfüllbar sind. Das gilt im Übrigen für Männer genauso, nur dass sie anders damit umgehen. Verbunden mit einem Hang zu Perfektionismus, der nach meiner subjektiven Wahrnehmung ebenfalls zunimmt, ist der Weg in den Abgrund eigentlich vorprogrammiert. Auswege bieten vor allem Drogen jeglicher Art, aber auch die unterschiedlichsten Krankheitsbilder, die zu Auszeiten und Zuwendung führen sollen. Daher hier die erschreckenden Fakten.

Sucht wird weiblich

Es gibt schon heute mehr medikamentenabhängige Frauen als Männer. Man geht von 2,1-2,6 Millionen Deutschen aus, die einen problematischen Konsum von abhängig machenden Medikamenten aufweisen. Davon sind 60-70 % weiblich. Die Mehrheit ist älter als 45 Jahre.

Es gibt eine Reihe Risikofaktoren:

  • alleinerziehend und sozial benachteiligt
  • gefangen in einer Arbeit mit wenig Gestaltungsspielraum
  • beeinträchtigt durch schwere Partnerschaftsprobleme (verbunden vor allem mit Gewalt und Alkoholismus)

Diese Zusammenstellung von Risikofaktoren betrifft überwiegend Frauen. Es stehen 400.000 alleinerziehenden Vätern 2,3 Millionen alleinerziehende Mütter gegenüber. Zudem müssen doppelt so viele alleinerziehende Frauen wie alleinerziehende Männer ALG II beantragen.

104.296 Frauen, die nach der Statistik des BKA Opfer von Gewalt in der Partnerschaft werden, stehen 23.167 Männer gegenüber, Tendenz zunehmend. Die Anzahl der Alleinerziehenden steigt und die Gewalt in der Partnerschaft nimmt zu. Wen wundert es da, dass sich die Einnahme von Schmerz-, Schlaf- und Beruhigungsmitteln von 2014 bis 2017 fast verdoppelt hat.

Für rezeptfreie Schmerzmittel geben die Deutschen jährlich mehr als eine Milliarden Euro aus. Und schon die haben nicht nur Nebenwirkungen auf Leber, Magen und Darm, sondern machen psychisch abhängig. Vor allem weil sich die Nutzer an das Gefühl der Schmerzfreiheit gewöhnt haben und der Zusatz von Koffein in mindestens 25 % der verkauften Schmerzmittel für ein gesteigertes Lebensgefühl sorgt.

Der Umsatz für verschreibungspflichtige Schmerzmittel lag 2017 bei 1,6 Milliarden Euro. Dabei ist die Verschreibung von opioidhaltigen und damit auch körperlich abhängig machenden Schmerzmitteln seit 2001 um 37 % gestiegen. Ärzte verordnen sie zu schnell, zu lange und zu oft.

Zudem wurden in Deutschland 2017 rund 28 Millionen Packungen Schlafmittel und fast 9 Millionen Schachteln Beruhigungsmittel mit dem Wirkstoff Diazepam verkauft. Und das, obwohl Benzodiazepine, zu denen Diazepam gehört, unter dem Verdacht stehen, Alzheimer zu begünstigen. Die Wahrscheinlichkeit der Erkrankung steigt um 51 %, wenn das Medikament mehr als drei Monate eingenommen wurde. Außerdem haben Schmerz- und Beruhigungsmittel gerade bei älteren Menschen ein erhöhtes Sturzrisiko, Inkontinenz und Vergesslichkeit zur Folge. Diazepam ist erst nach 70 Stunden abgebaut und reichert sich im Körper an.

Ich finde, man muss sich diese leise Form von Sucht in all ihren Facetten einmal klar machen. Öffentlich gesprochen wird darüber viel zu wenig.

Meines Erachtens sind für den Anstieg des Medikamentenkonsums nicht nur die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verantwortlich. Über den steigenden Druck wird schon seit Jahren geklagt - auch in den Medien. Verantwortlich sind auch die Erwachsenen, die von einem sehr fürsorglichen Staat betreut mehr und mehr die kindliche Geisteshaltung einnehmen, dass jemand oder etwas kommen wird, um dem Schmerz oder dem Problem Einhalt zu gebieten. Denn es liegt dieser Auffassung nach weder in der Verantwortung noch in der Möglichkeit des Betreffenden, selbst eine Lösung zu finden. Gerade Medikamente sind - folgt man dieser Überzeugung - ein äußerst hilfreiches Mittel, um Schmerzen körperlicher und seelischer Art zu beheben. Und im Gegensatz zu Alkohol sichern sie häufig die Funktionsfähigkeit des Konsumenten, was sie gerade für Frauen besonders attraktiv macht.

Und nur nebenbei: Die Gewinne der Pharmaindustrie übertreffen seit 15 Jahren die aller anderen an der Börse gehandelten Industrien.

In Bezug auf Alkohol liegen die Männer noch in Führung - bei 9,5 Millionen, die Alkohol in gesundheitlich riskanter Form konsumieren und ca. 1,2 Millionen Abhängigen. Waren jedoch am Anfang des 21. Jahrhunderts die Männer noch dreimal in der Überzahl, sind wir jetzt bereits bei einem Verhältnis von nur noch 2:1. Bei jungen Menschen ab dem Geburtsjahr 1991 hält sich der Risikokonsum bereits die Waage. Der einschränkende Effekt des sichtbaren Konsums, was bei Medikamenten ja anders ist, spielt keine Rolle mehr. Dafür ist Alkohol jederzeit und fast überall verfügbar. Bei geschätzten 2,7 Millionen Kindern trinkt mindestens ein Elternteil dauerhaft. Das bedeutet, dass eins von sieben Kindern mit einem alkoholkranken Elternteil aufwächst; bei jedem zwölften sind es bereits beide. Die Masse sind funktionierende Alkoholiker.

Sexueller Missbrauch ist eine sehr häufige Basis für zahlreiche psychische und psychosomatische Erkrankungen

Jede dritte alkoholkranke Frau wurde als Kind missbraucht und fast jeder dritte Mann hat als Kind ebenfalls sexuelle Traumata erlitten. Medikamentenabhängige Frauen haben zu 67 % sexuelle Traumata erlitten und zu 30 % Gewalt.

Missbrauchte Kinder und Jugendliche leiden auch als Erwachsene an Störungen des Selbstwertgefühls, an Scham und Gefühlen der Wertlosigkeit. Drogen jeder Art ermöglichen ihnen, sich von diesen Gefühlen zu entfernen, sie nicht mehr wahrzunehmen oder zu kompensieren. Gerade Frauen nutzen Medikamente und Alkohol, um die eigenen Bedürfnisse zu vergessen und die Folgen leichter erträglich zu machen. Um wieviel mehr gilt das vermutlich für schwer traumatisierte Menschen? Auch hier gibt es eine belegte Wechselwirkung zwischen der Fähigkeit zum „Nein“-Sagen und der Häufigkeit von sexuellem Missbrauch.

Brave, angepasste Mädchen laufen deutlich häufiger Gefahr, sexuell missbraucht zu werden. Je kleiner die Kinder sind, desto einfacher ist es für den Täter zudem, ein „Nein“ in ein „Ja“ umzudeuten oder es einfach gar nicht zur Kenntnis zu nehmen. Es gibt bereits zahlreiche Studien, die den Zusammenhang von sexuellem Missbrauch und psychischen Erkrankungen untersuchen.

So sind ca. 70 % der Patientinnen in psychiatrischen Kliniken in der Kindheit oder Jugend sexuell missbraucht worden. Eine Größenordnung, die einen viel offensiveren, öffentlicheren und strengeren Umgang mit dem Thema allemal rechtfertigen würde. In sämtlichen Studien, sei es zu Depressionen, zu Borderline-Störungen und zu dissoziativen Störungen, ist die Anzahl der Erkrankungen unter den sexuell Missbrauchten immer deutlich höher als in den Kontrollgruppen. Die Suizidgefahr ist um das Fünffache höher als bei allen anderen.

Zusammenfassend ist man zu dem Schluss gekommen, dass sexueller Missbrauch als einzelne Ursache die Gefahr für jegliche psychische Erkrankung ungefähr verdoppelt. Das betrifft nun wiederum etwa doppelt so oft Frauen als Männer. Untersuchungen lassen vermuten, dass bis zu 30 % aller Mädchen und bis zu 15 % aller Jungs bereits Opfer von sexuellem Missbrauch geworden sind. Und vermutlich ist die Zahl sogar noch höher, denn die Befragung orientiert sich an den anonymen Aussagen von Menschen, die bei der Beantwortung Kenntnis von dem Missbrauch haben müssen, um ihn anzugeben.

Nach meiner Erfahrung - und ich arbeite häufig mit in der Kindheit missbrauchten Menschen - spalten viele dieses entsetzliche Wissen ab, um ein halbwegs normales Leben führen zu können. Oft kommen sie erst über 30 durch andere physische und psychische Beschwerden zu der entsprechenden Erkenntnis. Wie viele dieser Menschen ein Leben lang das Wissen um dieses Trauma tief im Unterbewusstsein vergraben sein lassen, kann leider keine Studie erfassen.

Essstörungen sind fast ausschließlich weiblich

Etwa 95 % der Essstörungen betreffen Frauen und Mädchen. Neben den problematischen Situationen in den Elternhäusern der Betroffenen - bei denen es u.a. auch wieder um sexuellen Missbrauch gehen kann - sind es oft soziale und gesellschaftliche Faktoren, die dazu führen, dass man sich ständig mit dem Aussehen des eigenen Körpers und dem Essen beschäftigt. Mobbing in der Schule, Medienstars und Medieneinflüsse sind ein Thema. Immerhin wogen Mannequins in den 80ern nur 7 % weniger als die Durchschnittsfrau. Heute sind es 20 %. Dazu kommen Studien zu gesundheitlichen Risiken des Übergewichts und die Verflechtung der Begriffe „schlank“ und „jung“.

Denn immer häufiger erkranken auch Frauen in der Lebensmitte an Essstörungen. Die Gründe sind oft ebenfalls in der Familie, dann jedoch eher in der Partnerschaft und im sozialen Umfeld zu finden. Die kritik- und zweifelsfreie Übernahme von Idealbildern, die durch die Medien geprägt sind, zusammen mit hohem Perfektionismus und der Unfähigkeit sich abzugrenzen, sind eng mit der Krankheit verbunden. Auch hier ist der mündige Erwachsene gefragt. Zweifeln, Hinterfragen, Nachfragen und das Ablehnen vorgefertigter Bilder sind Fähigkeiten, die oft mühsam erlernt werden müssen.

Psychische Erkrankungen als häufigster Grund für Arbeitsunfähigkeit

Der oben beschriebene Trend des Anstiegs gilt auch für die Ausfalltage auf Grund von psychischen Erkrankungen. Etwa 17 % aller Krankentage entfallen auf psychische Erkrankungen. Die Dunkelziffer dürfte meines Erachtens aber deutlich höher liegen, denn gerade Männer, aber auch zahlreiche Frauen kompensieren Depressionen, Ängste und Trauer mit körperlichen Symptomen, wegen der sie dann auch krankgeschrieben werden.

Mit 22 % sind Muskel- und Skelett-Erkrankungen noch immer an der Spitze der Krankheitsgründe. Aber gerade Rückenleiden wie auch Gelenkprobleme sind häufig mit psychischen Problemen verbunden. Sieht man sich die geschlechtsbezogene Auswertung an, so sind die psychischen Erkrankungen bei Frauen bereits auf den ersten Platz vorgerückt.

Mit 2,5 Ausfalltagen pro Versicherten ist 2016 der vorläufige Höchststand erreicht worden - bei Frauen 3,1 Tage und bei Männern 1,9 Tage. Seit 1997 hat sich die Anzahl der Fehltage wegen psychischer Krankheiten verdreifacht. Die Krankschreibungen bei psychischen Erkrankungen umfassten im Schnitt 38 Tage. Auch hier darf man wohl davon ausgehen, dass viele Patienten nach Ablauf der sechs Wochen Lohnfortzahlung durch den Arbeitgeber aus finanziellen Gründen wieder arbeiten gehen, obwohl sie sich noch nicht wieder in der Lage fühlen. Am häufigsten wurde wegen Depressionen krankgeschrieben, dicht gefolgt von Anpassungsstörungen. Nur die Diagnose Burnout wurde signifikant seltener eingetragen.

Ein interessanter Nebenbefund ist, dass 80 % aller Deutschen schlecht schlafen. Schlaf ist jedoch eine wesentliche Voraussetzung für psychische Gesundheit. Zum einen, weil wir im Schlaf die Ereignisse des Tages verarbeiten. Zum anderen, weil im Schlaf das Gehirn durch die Weitung der Gefäße die Möglichkeit hat, giftige Eiweißbestandteile abzutransportieren, die sich in der Gehirnflüssigkeit befinden. Gerade Alzheimer- und Parkinson-Erkrankungen werden mit genau diesen Eiweißablagerungen verbunden.

Neben den sozialen, familiären und beruflichen Problemen, die die Menschen vom Schlaf abhalten, spielt natürlich auch die Tatsache, dass wir unseren natürlichen Schlafrhythmus konsequent ignorieren, eine wesentliche Rolle. Und der Ausweg ist leider selten eine Veränderung der Lebensweise und des Verhaltens, sondern die Nutzung von Drogen und Alkohol.

Frauen haben ungünstigere körperliche Voraussetzungen zur Bewältigung psychischer Erkrankungen

In Bezug auf die körperlichen Folgen der Sucht sind Frauen klar im Hintertreffen. Sie haben mehr Fettgewebe und lagern damit Medikamente und Alkohol sehr gut ein, statt sie auszuspülen. Damit haben sie ein um das Vierfache erhöhte Risiko, an Leberkrebs zu erkranken. Zudem macht es die Einlagerung schwieriger, sich von der Sucht zu verabschieden. Gleichzeitig dauert der Entzug von Medikamenten länger und ist mit mehr Problemen und höheren Rückfallquoten verbunden als der Entzug von Alkohol.

Auch das Gehirn von Frauen wird durch Medikamentenmissbrauch schneller geschädigt als durch Alkohol. Der Grund: Zahlreiche Medikamente haben die Fähigkeit, die Blut-Hirn-Schranke zu überwinden und so ihre Wirkung direkt im Hirn zu entfalten. Ein Blick ins Gehirn zeigt, dass Frauen unter Stress einen stark sinkenden Glukosestoffwechsel in der Großhirnrinde haben. Diese Region ist eng mit der Verhaltenskontrolle verbunden. Deshalb haben Frauen ein starkes Substanzverlangen und der Entzug ist bei ihnen erheblich erschwert.

Ein positiver Effekt soll hier natürlich keinesfalls verschwiegen werden. So hat Östrogen bei Schizophrenie eine Schutzfunktion. Dadurch erkranken Frauen durchschnittlich fünf Jahre später als Männer. Außerdem gibt es bei Frauen einen zweiten Gipfel des Ausbruchs zwischen dem 45. und dem 49. Lebensjahr. Männer haben in der Regel stärkere Symptome und sprechen schlechter auf Medikamente an.

Fazit

Für jeden, der diese doch ziemlich erschreckenden Fakten verinnerlicht, gilt es, das eigene Handeln zu hinterfragen und sich der Verantwortung für sein Leben und seine Gesundheit zu stellen. Und: Wehret den Anfängen! Nehmen Sie Schlafprobleme nicht auf die leichte Schulter, sondern zum Anlass, sich und das eigene Verhalten zu reflektieren und sich gegebenenfalls außerhalb der Pharmaindustrie Hilfe zu suchen.

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