Einst wurden Milchzähne mit der Begründung, den nachfolgenden bleibenden Zahn zu schützen, in der Regel entfernt, sobald sie durch einen Zahnunfall oder durch großvolumige Zerstörung betroffen waren. Meist hörte man, bevor die Zahnentfernung eingeleitet wurde: „Es ist nur ein Milchzahn, der fällt doch eh bald aus.’ Heute sieht man die Sache anders. In manchen Fällen kann sogar eine Wurzelbehandlung notwendig sein, um den Milchzahn zu erhalten.
Die Zeiten und Erkenntnisse ändern sich und so fand ein Wandel der wissenschaftlichen Grundauffassung statt. Die Bedeutung der Milchzähne in Anbetracht der zukünftigen Entwicklung hat in den letzten Jahren einen neuen Stellenwert erreicht.
Statt Milchzähne zu entfernen, versuchen Zahnärzte, die sich im Bereich der Wurzelkanalbehandlung spezialisiert haben, sie zu erhalten. Die Milchzähne dienen als sogenannte „Platzhalter“ für die bleibenden Zähne, damit sie an der korrekten Position durchbrechen können. Wenn der Milchzahn vorher entfernt wird, können die Nachbarzähne in die entstandene Lücke kippen.
Das kann später zu Komplikationen führen und eventuell eine kieferorthopädische Behandlung nötig machen. Auch der Zeitpunkt des „Zahndurchbruchs“ des bleibenden Zahnes kann sich dadurch massiv verzögern. Das Kauen wird beim Verlust eines oder mehrerer Milchzähne erschwert und kann das ganze Kaumuster negativ beeinflussen.
Für die Sprachentwicklung werden die Milchzähne ebenso benötigt. Versuchen Sie einmal, folgende Laute zu sprechen, und fühlen Sie, wo sich Ihre Zunge dabei befindet: „S“, „SCH“ oder „Z“, „D“ oder „T“, „F“ oder „L“ und ‘W’ oder ‘V’.
Jetzt stellen Sie sich vor, einer Ihrer mittleren Schneidezähne würde fehlen, und wiederholen Sie diese Übung. Sie werden schnell feststellen, dass einige Laute nicht deutlich gebildet werden können. Milchzähne sind nicht nur zum Sprechen wichtig, sondern vor allem zum richtigen „Sprechenlernen“. Außerdem können durch Lücken bleibende Fehlfunktionen antrainiert werden. Das passiert zum Beispiel, wenn die Zunge in die Lücke eingelagert wird.
Diese Fehlfunktionen benötigen einen hohen Aufwand und auch viel Zeit, um durch einen Logopäden abtrainiert zu werden. Und eins dürfen wir ebenfalls nicht außer Acht lassen: welch enorme Wirkung ein verlorener Frontzahn über mehrere Jahre auf die Psyche unserer Kinder ausübt. Von den Hänseleien anderer Kinder ganz zu schweigen.
Wie schon zu Beginn erwähnt, führen Zahnunfälle oder großvolumige Zerstörungen dazu, dass Bakterien und Gifte in das Innere der Milchzähne gelangen und somit das innere Versorgungsbündel und Nervengewebe irreparabel schädigen. Einmal dort angekommen, läuft die ganze Zerstörung viel rasanter ab als bei einem bleibenden Zahn.
Das Ziel einer Wurzelkanalbehandlung an einem Milchzahn ist es, ihn in seiner vollen Funktion beschwerdefrei zu erhalten, bis der bleibende Zahn durchgebrochen ist.
Der Ablauf der Wurzelkanalbehandlung an einem Milchzahn gleicht dem an einem bleibenden Zahnes. Aber mit einem kleinen gravierenden Unterschied: Sämtliches infiziertes Gewebe mit samt der Bakterien muss aus dem Wurzelkanalsystems entfernt werden. Das wird durch prozessorgestützte Aufbereitung, elektrometrische Längenbestimmung und Anwendungen verschiedener Spülungen ermöglicht, die zum Teil auch ultraschallunterstützt sind. Auch die Anwendung eines Diodenlasers steigert die Dekontamination und erhöht dadurch die Erfolgsaussichten.
Der entscheidende Unterschied bei der Wurzelkanalbehandlung zwischen einem bleibenden Zahn und einem Milchzahn ist das Wurzelfüllmaterial. Beim Milchzahn muss dieses Material aufgenommen werden können. Das ermöglichen neuartige Zemente, die nicht nur absolut dichte Wurzelfüllungen gewährleisten, sondern teilweise auch die Regeneration der umliegenden Nachbarstrukturen bei hoher Biokompatibilität fördern.
Die Erfolgsprognose einer Wurzelbehandlung kann bis zu 90 % betragen, was vor einigen Jahren noch undenkbar war.
Eine solche Behandlung bedarf nicht unbedingt der Vollnarkose, weil sie in der Regel schmerzarm ist. Bei der Entscheidung spielt das Alter des Kindes und seine geistige Entwicklung eine Rolle. Die Behandlung benötigt Zeit, was für Zwei- bis Sechsjährige oft eine große Herausforderung darstellt. Es gibt eine Faustregel in der Kinderzahnheilkunde:
Kindesalter x 2 + 3 = Behandlungsdauer in Minuten
Beispiel: Bei einem 5-jährigen Kind sollte die Behandlungsdauer in der Regel nicht mehr als 13 Minuten überschreiten (5 x 2 + 3 = 13). Wie Sie merken, ist das Zeitfenster für die Behandlung sehr kurz. Jedoch kann es mit einem an der Decke hängenden Fernseher vergrößert werden, wenn dort kindgerechte Inhalte während der Behandlung gezeigt werden. Auch durch aktive Hilfe des Kindes und das Einbeziehen des Kindes in die Behandlung kann das Zeitfenster gedehnt werden.
Es gibt aber auch noch weitere Möglichkeiten, um auf die benötigte Behandlungszeit zu kommen, wie zum Beispiel Kommunikationstechniken und Kinder-Hypnose. Letztere kann man bei sehr ängstlichen Kindern nutzen. Eine weitere Möglichkeit bietet die Analogsedierung unter Lachgas. Wie Sie merken, gibt es viele Möglichkeiten, bevor der Weg zur Vollnarkose führt.
Nach der Wurzelkanalbehandlung eines Milchzahnes können noch Beschwerden unmittelbar nach der Behandlung bestehen. Sie sollten im Laufe von zehn Tagen abklingen. Die Wurzelkanäle sind gereinigt und abgefüllt. Jedoch braucht der Körper noch einige Zeit dafür, um die Bakterien zu beseitigen, die sich im umliegendem Gewebe befinden. Anschließend sollte der Zahn beschwerdefrei sein und seine Funktion erfüllen.
Das kann auch mit Ibuprofen unterstützt werden. Der Wirkstoff ist nicht nur für die Schmerzreduktion bekannt, sondern wirkt auch der Entzündung entgegen. Daher müssen Antibiotika in der Regel nicht mehr gegeben werden.
Für einige Eltern stellt sich die Frage, ob die gesetzliche Krankenkasse für die Wurzelkanalbehandlung an Milchzähnen aufkommt. Seit dem 1. Januar 2004 gibt es dafür folgende Beschränkungen:
So ist an diesen Zähnen die Wurzelkanalbehandlung nach Kassenrichtlinien in der Regel nur dann angezeigt, wenn damit eine geschlossene Zahnreihe erhalten werden kann und eine einseitige Freiend-Situation vermieden wird. Gleichzeitig muss die Behandlung „zweckmäßig“, „ausreichend und „wirtschaftlich sein“. Daher kann die Frage, ob die gesetzliche Krankenkasse für die Behandlung aufkommt, nicht eindeutig beantwortet werden.
Der Erkenntnisstand in der Zahnmedizin verdoppelt sich alle 10 Jahre. Durch neue Verfahren erreichen wir höhere Erfolgsraten. Leider sind neue Methoden häufig nicht im Leistungskatalog der Krankenkassen enthalten. Auch die privaten Krankenversicherungen bilden hier selten eine Ausnahme.
Ihr Zahnarzt klärt Sie gerne vor Behandlungsbeginn auf und wird ein Angebot für die Behandlung vorbereiten.
Angesicht der heutigen Möglichkeiten sollte der vielzitierte Satz „Mut zur Lücke“ auch bei Milchzähnen der Vergangenheit angehören.
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