Transsexuelle Zwangsgedanken und tatsächliches Trans*Sein sind zwei völlig unterschiedliche Dinge. Eine Trans*Person erlebt ihr persönliches Bekenntnis zur eigenen sexuellen Identität als etwas Befreiendes und Schönes: Problematisch sind im Erleben von Trans*Personen nicht die eigenen Gedanken und Vorlieben, sondern die Aburteilung und das Unverständnis der cis-sexuellen Umwelt.
Menschen, die an transsexuellen Zwangsgedanken leiden, machen eine ganz andere Erfahrung. Sie leiden nicht an der Ablehnung und am Unverständnis ihrer Umgebung, sondern an ihren eigenen Gedanken, die sie als fremd und unpassend empfinden und in keiner Weise als befreiend oder sexuell beglückend.
Transsexuelle Zwangsgedanken sind eine Unterform der Zwangsstörung – ein Mensch, der sich mit seiner eigenen Identität als biologischer Mann oder biologische Frau grundsätzlich im Einklang fühlt, beginnt unangenehme und quälende Grübelzwänge zu entwickeln und sich selbst in Frage zu stellen. Er fragt sich, ob er sich seiner Geschlechtsidentität wirklich sicher sein kann, ob es vielleicht doch Hinweise darauf gibt, er als Mann wäre doch eher weiblich oder sie als Frau eher männlich. Diese zwanghafte Hinterfragung der eigenen Geschlechtlichkeit kann sich zu einem so starken Störungsbild entwickeln, dass für einen Menschen die gesamte Lebensqualität verloren geht – bis dahin, dass es zu Suizidimpulsen kommen kann.
Transsexuelle Zwangsgedanken bedeuten also etwas völlig anderes als Transsexualität oder Transgender-Sein. Während eine Trans*Person ihre sexuelle Identität als positiv, lustvoll und befreiend erlebt, handelt es sich bei transsexuellen Zwangsgedanken um die permanente Infragestellung der eigenen Person und Sexualität.
Oft stellen Menschen mit transsexuellen Zwangsgedanken auch ihre Fähigkeit in Frage, die Beziehung mit dem Partner/der Partnerin, die sie eigentlich lieben, noch fortführen zu können. Insofern findet sich hier gar nicht selten eine Überschneidung mit ROCD, den Zwangsgedanken in Bezug auf die eigene Partnerschaft.
Vor solchen Zwangsgedanken um die eigene sexuelle Identität sind übrigens auch Trans*Personen nicht sicher. Hier lautet dann der in diesem Fall „cis-sexuelle“ Zwangsgedanke: „Könnte es nicht sein, dass ich mir etwas vormache und „eigentlich ganz normal cis-sexuell“ bin? Bin ich mir wirklich genügend sicher in meiner eigenen Identität als Trans*Person?“
Besonders häufig treten solche Zwangsgedanken im Rahmen einer mittelgradigen oder schweren depressiven Episode auf. Daher ist eine genaue psychologische und medizinische Diagnostik erforderlich, um ggf. in einem ersten Schritt die depressive Erkrankung zu behandeln. Das würde die Grundlage dafür schaffen, dass der betroffene Mensch überhaupt in der Lage ist, sich von negativen Gedanken in Bezug auf sich selbst wieder zu distanzieren.
Im englischen Sprachraum, wo es bisher deutlich mehr Forschung zum Thema sexuelle Zwangsstörungen gibt als in Deutschland, hat sich die Bezeichnung TOCD entwickelt: Transsexual Obsessive Compulsive Disorder.
Typisch sind demnach sich aufdrängende, als unangenehm empfundene Gedanken wie zum Beispiel:
Des Weiteren kann es im Rahmen von TOCD auch zu zwanghaftem Verhalten kommen, das die Betroffenen als sehr unangenehm empfunden, aber trotzdem nicht recht kontrollieren können:
Entscheidend bei der transsexuellen Zwangsstörung ist – übrigens wie bei allen anderen Formen der Zwangsstörung auch – eine genaue Diagnostik.
Die größte Gefahr wäre, dass ein wohlmeinender Arzt oder Therapeut das Störungsbild nicht erkennt und den Klienten oder die Klientin in den Zwangsgedanken noch weiter bestärkt: „Es ist heutzutage doch gar nicht schlimm, transsexuell zu sein…“ Dadurch hat der Klient bzw. die Klientin dann kaum noch eine Chance, sich von den sich aufdrängenden Zwangsgedanken zu distanzieren („Wenn das jetzt auch schon ein Arzt oder Therapeut für richtig hält…“).
Im Extremfall können sich Menschen unter dem Druck transsexueller Zwangsgedanken sogar dazu entschließen, eine Klinik aufzusuchen, um chirurgische und hormonelle Schritte zur Geschlechtsumwandlung einzuleiten – in der Hoffnung, sie könnten durch eine solche klare und eindeutige Entscheidung die ständig quälende Unsicherheit über die eigene Geschlechtsidentität loswerden.
Auch wenn aktuell vor einer operativen Geschlechtsumwandlung (noch) zwei medizinische Gutachten vorab erforderlich sind, ist das kein vollständiger Schutz vor einer falschen Entscheidung – zumal für die Gutachten keine speziellen Vorgaben bestehen, die besagen, dass eine depressive Episode ein Ausschlussgrund für eine Operation darstellt.
Natürlich ist eine aktuelle depressive Episode für sich allein genommen kein Argument gegen Transsexualität (auch ein Trans*Mensch kann Depressionen entwickeln, insbesondere infolge von Diskriminierungen und Anfeindungen). In jedem Fall ist es aber psychologische und ärztliche good practice, bei einer aktuell vorliegenden depressiven Episode keine Entscheidungen von hoher Tragweite zu treffen (also z. B. weder zu heiraten, noch sich scheiden zu lassen, nicht spontan den Arbeitsvertrag zu kündigen, keine größeren Geldschenkungen vorzunehmen etc.).
Eine geschlechtsumwandelnde Operation heilt die Zwangsstörung natürlich nicht – und Betroffene haben im schlimmsten Fall dann zusätzlich zu ihrer psychischen Erkrankung auch noch das Problem, sich mit den irreversiblen Folgen der Geschlechtsumwandlung auseinandersetzen zu müssen.
Sie treten dann den psychisch und körperlich schmerzvollen Weg der Detransition an (also den Versuch, die Folgen einer medizinischen Geschlechtsumwandlung wenigstens teilweise rückgängig zu machen). Bei einem Großteil dieser Menschen steht zu Beginn vermutlich eine fehlerhafte Diagnostik, bei der transsexuelle Zwangsgedanken als Anzeichen für eine tatsächliche Transsexualität missverstanden wurden.
WICHTIGER HINWEIS: Natürlich wäre es auch ein therapeutischer Fehler, einem Menschen mit Trans*Identität transsexuelle Zwangsgedanken zu unterstellen, von denen man geheilt werden müsste. Daher an dieser Stelle ganz klar und deutlich: Ich halte Transsexualität für kein behandlungsbedürftiges Störungsbild. Es ist sexuelles Menschenrecht, dass jede/r seine sexuelle Identität so leben kann, wie mensch es möchte, mit oder ohne geschlechtsangleichende Operation.
Der erste Schritt der psychotherapeutischen Behandlung der transsexuellen Zwangsstörung (TOCD) ist eine genaue Diagnostik. Häufig treten Zwangsgedanken und Zwangshandlungen im Rahmen anderer psychischer Störungen auf, also z. B. infolge einer depressiven Episode, aber auch infolge von Alkoholabusus oder der Einwirkung anderer psychotroper Substanzen (Drogen, Medikamente). Auch sexuell traumatische Erlebnisse in Kindheit und Jugend können dazu führen, die eigene Geschlechtsidentität immer wieder in Frage stellen zu müssen.
Je nachdem, welche diagnostischen Befunde sich hier in der psychologischen Anamnese ergeben, sind unterschiedliche therapeutische Verfahren möglich. Eine kognitive Verhaltenstherapie (ggf. in Verbindung mit einer Pharmakotherapie mit einem SSRI-Antidepressivum) kann bei KlientInnen mit einer depressiven Episode hilfreich sein. Für KlientInnen mit Alkoholabusus oder dem Gebrauch psychotroper Substanzen sind spezielle suchttherapeutische Verfahren wichtig. Im Falle traumatischer Erlebnisse, die die Zwangsgedanken immer neu triggern, wäre eine Traumatherapie angezeigt.
Ohne psychotherapeutische Behandlung ist es eher wahrscheinlich, dass Zwangsgedanken eher immer weiteren Raum im Leben der Betroffenen einnehmen, als dass sie „von selbst“ wieder aufhören. Es ist daher unbedingt sinnvoll, einen geeigneten Therapeuten aufzusuchen.
Die gute Nachricht: Zwangsgedanken allgemein – und auch transsexuelle Zwangsgedanken – gelten als gut therapierbar, wenn das geeignete therapeutische Verfahren gewählt wird, und ggf. auch über den Arzt zusätzlich eine geeignete Medikation erfolgt.
Transsexuelle Zwangsgedanken müssen definitiv nicht sein. Es ist auf jeden Fall sinnvoll, hier die Initiative zu ergreifen und den Arzt bzw. Therapeuten des eigenen Vertrauens auf die Problematik anzusprechen.
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