Team jameda
Von einem „Tinnitus“ spricht man, wenn man Geräusche hört, die nicht aus einer äußeren Schallquelle stammen.
Im Prinzip ist es eher ein Zeichen der Leistungsfähigkeit und weniger ein Zeichen eines Defizits.
Der Nobelpreisträger Daniel Kahnemann hat in seinem Buch „Schnelles Denken, Langsames Denken“ die Vor- und Nachteile beider Denkweisen dargelegt. Der Vorteil des schnellen Denkens – die Geschwindigkeit – wird durch eine geringere Genauigkeit erkauft. Der Vorteil des langsamen Denkens – die Genauigkeit – wird durch Langsamkeit erkauft.
Manchmal ist es wichtig, schnell zu Ergebnissen zu kommen, auch, wenn sie möglicherweise falsch sind. Jemand, der ein gelb-schwarzes Streifenmuster für einen Tiger im Gebüsch hält, läuft schnell davon. Wenn sich später herausstellt, dass es sich nicht um einen Tiger, sondern um ein harmloses Streifenmuster gehandelt hat, ist das nicht schlimm. Der Fehler kann ja korrigiert werden. Aber jemand, der einen Tiger fälschlich für ein harmloses gelb-schwarzes Streifenmuster gehalten hat, hatte später nie die Gelegenheit, diesen Fehler zu korrigieren. Und deshalb gehört diese Person auch nicht zu unseren Vorfahren.
Unsere Vorfahren hatten alle die Fähigkeit, schnell zu denken und dafür den Preis der Fehlerbehaftung zu „bezahlen“. Diese Fähigkeit, schnell Gefahren auszuweichen – auch, wenn es sich im Nachhinein als unbegründet herausstellt, hat das Überleben und damit die Fortpflanzungsfähigkeit gesichert. Die Evolution hat das schnelle Denken bevorzugt.
Ein solches Denken gibt es nicht nur im optischen, sondern auch im akustischen Bereich. Man kann ein „Zischeln“ überschätzen und für eine Klapperschlange halten. Man kann aber auch eine Klapperschlange unterschätzen und denken, dass es sich nur um ein harmloses „Zischeln“ handelt. Der erste Fall ist unproblematisch, der zweite tödlich. Die Evolution hat die tödlichen Irrtümer beseitigt: Es bleiben die harmlosen Überschätzungen übrig.
Und mit diesen Überschätzungen – in Form von Tinnitus – müssen wir heute leben. Dieser Hintergrund ist dafür verantwortlich, dass Geräusche – insbesondere unbekannter Herkunft – zu einer erhöhten Aufmerksamkeit, häufig aber auch zu Ängsten führen.
Dass die Aufmerksamkeit erhört wird und sich Ängste entwickeln, liegt nicht in unserer Macht. Es sind Hirnareale, die uns diese Eigenheiten aufzwingen. Eine erhöhte Aufmerksamkeit und eine ängstliche Beobachtung führen zu einer verstärkten Wahrnehmung der Geräusche. Das hat unseren Vorfahren oftmals das Leben gerettet. Aber es handelt sich dabei auch um einen „Teufelskreis“, aus dem ein Entrinnen schwierig und mitunter fast unmöglich ist. Diese „ängstliche Selbstbeobachtung“ kann in die Katastrophe führen.
Tinnitus, also Ohrgeräusche, haben zwei „Standbeine“: Stille in der Umgebung und die erhöhte Aufmerksamkeit auf das Pfeifen im Ohr.
Beide „Standbeine“ bieten Möglichkeiten für die Behandlung. Zunächst sollte ein Tinnituspatient die Stille meiden. In der Stille hört er den Tinnitus lauter, denn auch die Armbanduhr hört man nur in der Stille, nicht aber im Lärm.
Für Schwerhörige gibt es gleich die erste Einschränkung: Schwerhörige würden die Stille gern meiden, können es aber nicht, weil sie schwerhörig sind und den Umgebungslärm nicht wahrnehmen. Zur Tinnitusdiagnostik gehört also ein Hörtest. Die Schwerhörigkeit muss übrigens nicht alle Töne umfassen, die es gibt, denn es reichen auch schmalbandige Hörminderungen, die nur einen kleinen Frequenzbereich umfassen.
Zur Behandlung des zweiten „Standbeines“ gilt die Regel: Nicht hinhören. Leider ist diese Regel nicht leicht umzusetzen, denn die „Programmiersprache des Gehirns“ kennt den Befehl „nicht“ nicht! Wer die Aufgabe bekommt, jetzt gerade nicht an einen roten Elefanten zu denken, kann das nicht umsetzen: Er denkt sofort an einen roten Elefanten.
Mit dem Begriff „Programmiersprache des Gehirns“ habe ich bereits einen Vergleich zwischen dem Gehirn und einem Computer gezogen. Dieser Vergleich hinkt natürlich wie alle Vergleiche, aber er ist nicht schlecht und plausibilisiert vieles auf eindrückliche Weise.
Unser Gehirn ist in der Lage, sehr viele Informationen zu verarbeiten – mehr als wir selbst ertragen können. Wir müssen uns unseres Herzschlages und unserer Atmung nicht bewusst sein, denn das Gehirn darf das eigenständig verarbeiten, ohne dem Bewusstsein „Meldung machen“ zu müssen. Die Raumtemperatur wird dem Bewusstsein erst dann mitgeteilt, wenn sie den üblichen Toleranzrahmen verlässt.
Das Gehirn hat also eine Art „Firewall“, die nur wichtige Informationen in das Bewusstsein lässt, die unwichtigen aber nicht. Bei einem Tinnituspatienten ist das Ohrgeräusch – eigentlich ein unwichtiges Signal – aus irgendeinem Anlass aus der Gehirnregion, in der er zuvor autonom vom Gehirn verarbeitet wurde, durch die „Firewall“ hindurch in das Bewusstsein gelangt. Wie wir oben gesehen haben, ist es in bestimmten Fällen durchaus wichtig, dass ein leises Geräusch gehört werden kann und dass das Bewusstsein Kenntnis davon erlangt. Aber wenn sich dann herausstellt, dass das Geräusch unwichtig ist, dann hat das Bewusstsein ein Problem: Das Bewusstsein kann sich nicht an die „Tastatur des Gehirns“ setzen und die Firewall schließen – es fehlt schlichtweg der Befehl „nicht“.
Das ist die schlechte Nachricht. Die gute Nachricht ist, dass die Firewall lernfähig ist. Sobald die Firewall gelernt hat, dass das Geräusch unwichtig ist, wird es nicht mehr zum Bewusstsein „durchgestellt“ und wird wie zuvor autonom vom Gehirn kontrolliert.
Problematisch ist es, wenn die Patienten ihren Tinnitus für wichtig erachten. Mit dieser Einstellung wird der Tinnitus von der Firewall dem Bewusstsein „auf einem Silbertablett“ serviert. Die Schwierigkeit liegt darin, etwas, das einem wichtig ist, so zu „behandeln“, als ob es unwichtig wäre. Die Firewall muss „ausgetrickst“ werden.
Als Patient dürfen Sie Ihren Tinnitus nicht lieben, denn das hält ihn im Bewusstsein fest. Sie dürfen ihn aber auch nicht hassen, denn das hält ihn ebenfalls fest im Bewusstsein! Sie müssen dem Tinnitus völlig neutral begegnen.
Jeder Arzt weiß, dass das schwer ist, aber es ist der einzige Weg. Wenn Sie gegen den Tinnitus kämpfen, dann ist der Tinnitus Ihr Feind. Und die Firewall ist so programmiert, dass sie Feinde für wichtig hält.
Medikamentöse Behandlungen können sinnvoll sein, wenn bestimmte Schwerhörigkeitsformen vorliegen. Meistens sind medikamentöse Tinnitusbehandlungen aber kontraproduktiv: Sie „dramatisieren“ den Tinnitus und zeigen der Firewall an, dass der Tinnitus sehr wichtig ist. Mit dieser Einstellung kann er nicht verschwinden.
Zunächst müssen relevante Schwerhörigkeiten behandelt werden – entweder medikamentös, operativ oder mit Hörgeräten. Dann müssen die Patienten zulassen, dass der Tinnitus verloren geht – das ist das aktivste, was sie tun können. Jede weitere Aktivität hält den Tinnitus fest. Je größer die Handlung, desto hartnäckiger der Tinnitus.
Falls das mal nicht funktionieren sollte, kann man professionelle Hilfe in Anspruch nehmen. Eine Erfolgsgarantie gibt es aber leider nicht. Und je länger ein Tinnitus besteht, desto länger dauert es normalerweise, bis er wieder verschwindet. Ein Tinnitus muss im Prinzip „verlernt“ werden. Und „Verlernen“ ist umso schwieriger, je besser man zuvor gelernt hat.
Wichtig bei einem Tinnitus ist in erster Linie, einen Hörtest machen zu lassen, um eventuelle Hörminderungen zu erkennen und gegebenenfalls auszugleichen. Hörprüfungen können Sie bei Ihrem HNO-Arzt durchführen lassen.
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