Seien Sie froh, dass Sie Stress haben! Sollten Sie selbst gerade sehr gestresst sein, wundern Sie sich vielleicht über diese Aussage. Fakt ist, dass Stress ein Aktivierungsprogramm ist, das dazu beigetragen hat, dass es uns Menschen als Spezies überhaupt gibt. Aber eines nach dem anderen.
Frühere Quellen sagen, dass keine eindeutige Definition von Stress existiert. Mittlerweile versteht man unter Stress jedoch eine Reaktion des Organismus auf eine Situation mit dem Ziel der Anpassung an eben jene Situation. Und damit fällt automatisch jegliche Bewertung von gut oder schlecht weg. Stress ist im ersten Schritt neutral zu verstehen. Der Organismus passt sich der Situation an – nicht mehr und nicht weniger. Um die Anpassung zu erreichen, stellt der Organismus Energie bereit und aktiviert sich selbst für eine passende Handlung.
Anhand eines sehr einfachen Beispiels kann man sich dies verdeutlichen. Wir stellen uns die folgende Szene vor: Es ist Winter, draußen herrscht Frost. Sie kommen in ein Büro, in dem seit Stunden das Fenster offen steht. Entsprechend kalt ist es im Raum und Sie frieren. Das ist Stress!
Es erfolgt die Anpassung an die Situation: Entweder verlassen Sie sofort wieder den Raum oder Sie ziehen sich eine dicke Jacke an. Und natürlich schließen Sie das Fenster und drehen die Heizung hoch. Ihr Körper stellt Ihnen für all diese Handlung Energie zur Verfügung. Sie bleiben mit Sicherheit nicht einfach tatenlos im Raum stehen und frieren vor sich hin. Denn Sie sind ja ein Warmblüter. Wären Sie eine Eidechse würden Sie stattdessen vielleicht nur die körpereigene Temperatur runterregeln und sich der kalten Raumtemperatur anpassen. Aber Sie sind ja ein Mensch.
Wäre die Situation eine andere, würden Sie anders reagieren. Sie sehen: Ihre Stress-Reaktion fällt je nach Situation unterschiedlich aus. Und sie fällt auch von Mensch zu Mensch unterschiedlich aus.
Gern wird in Vorträgen zum Thema Stress die Frage in den Raum geworfen: Gibt es guten Stress? Die Frage erübrigt sich, wenn man die zuvor beschriebene Definition als Grundlage anerkennt. Der Grund für diese Frage kommt aus einer bestimmten Richtung: Gemäß einer Theorie soll es sogenannten Eustress (gut) und Distress (schlecht) geben. Letztendlich sollte man hier sehr genau auf das schauen, was auf Körperebene passiert.
Steht ein Sportler kurz vor seinem Wettkampf, fühlt er sich sehr herausgefordert. Er will kämpfen und gewinnen. Dieser ‘Kampf-Modus’ ist vergleichbar mit dem typischen Stress-Modus. Doch dieser Moment fühlt sich für den Sportler eben nicht wie Stress an.
Und tatsächlich fällt auch die Reaktion auf Körperebene anders aus. Studien haben belegt, dass die körperliche Reaktion bei Stress mit Blick auf das Herz-Kreislauf-System gesünder ausfallen kann. Nämlich wenn die innere Haltung gegenüber dem Stress anders ausfällt als gemeinhin üblich. Steht eher freudige Erregung im Vordergrund, ein Gefühl von ‘Ja, ich will das schaffen!’, reagiert der Körper entsprechend gesünder (Studie: Jamieson, Nock, Mendes, 2012, Harvard University Department of Psychology).
Von daher ist es wohlmöglich irreführend, diesen Zustand als ‘guten Stress’ zu sehen. Denn die Stressreaktion an sich ist derzeit klar definiert und führt in den typischen Kampf- oder Flucht-Modus (‘Fight or Flight’) mit entsprechenden körperlichen Reaktionen, die im Folgenden näher betrachtet werden. Es ist evtl. an der Zeit, Stress und Stressreaktion neu zu definieren oder sogar neue Begriffe einzuführen. Aber das soll an dieser Stelle nicht vertieft werden. Übrigens wird heute ein weiterer Modus bei Gestressten beobachtet: Freeze, also das Erstarren in der belastenden, stressenden Situation.
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Fight, Flight oder Freeze**
Die menschliche Stressreaktion ist Jahrtausende alt. Unser Vorfahr, nennen wir ihn Neandertaler, hat genauso reagiert wie wir heute. Nur gibt es einen kleinen, aber entscheidenden Unterschied: Unser Vorfahr hat seinen Stress ausagiert. Wenn vor dem Neandertaler plötzlich ein großer, gefährlicher Säbelzahntiger stand (=Stress!?), dann hat unser Vorfahr die Beine in die Hand genommen und ist weggerannt (Flight/ Flucht). Wenn sein böser Nachbar die Keule schwingend auf ihn zugerannt kam (=Stress!?), packte unser Vorfahr auch seine Keule aus und hat gekämpft (Fight/ Kampf).
Er hat also gleich gehandelt und damit die körperliche Stressreaktion wieder abgebaut. Heute würden wir in vielen Fällen auch gern die Keule auspacken oder wegrennen. Aber den Chef k.o. schlagen oder vor dem Kunden weglaufen, kommt in der Regel nicht gut an. Also, was passiert stattdessen? Genau: Wir erstarren in der Situation.
Freeze
Diese Stressreaktion können wir tatsächlich auch in der freien Natur beobachten: Viele Fluchttiere beherrschen sie. Wenn ein kleines Kaninchen befürchtet, dass es vor der Gefahr nicht mehr rechtzeitig weghoppeln kann, geht es in den Freeze-Zustand. Es macht sich klein und verharrt bewegungslos wie ein Stein. So bleibt es, bis die Gefahr vorüber ist.
Anschließend passiert aber etwas Wichtiges: Es zappelt sich den Stress vom Leib und hoppelt danach erst weiter seines Weges. Bei vielen Menschen kann man heute eine ähnliche Reaktion bei Stress beobachten. Mit dem feinen Unterschied, dass der Mensch sich nach dem Erstarren den Stress nicht vom Leib schüttelt. Und das ist fatal. Denn so bleibt nach dem Stress die Stressreaktion im Körper stecken: die Anspannung, der flache Atem, der bunte Cocktail aus diversen Stresshormonen. Und so sind wir schon mitten im Thema:
Zur Veranschaulichung helfen auch hier wieder Bilder: Stellen Sie sich gern den oben schon erwähnten Neandertaler vor, der seine Höhle gegen den bösen Nachbarn verteidigen muss. Kampf bedeutet:
Dieses Programm wird von Stresshormonen gesteuert. Von Adrenalin oder Cortisol haben Sie vielleicht schon einmal gehört. Die beiden sind (einfach ausgedrückt) verantwortlich für die Aktivierung und die Handlungsbereitschaft.
Wenn der Neandertaler erfolgreich seine Höhle verteidigt hat, bauten sich die Stresshormone im Blut und Stressreaktion insgesamt durch die diversen aktiven Kampfbewegungen wieder ab und er kehrte zurück in sein persönliches Gleichgewicht.
Phänomen: Erstarren im Stresserleben
Heute erleben wir beim Menschen jedoch ein anderes Phänomen: Der Mensch von heute erstarrt in seinem Stresserleben, der Spannungszustand bleibt aufrecht erhalten. Die moderne Lebensweise begünstigt dies, wenn wir uns kaum noch im Alltag bewegen. Morgens mit dem Auto ins Büro, den ganzen Tag sitzen, Überstunden, müde mit dem Auto wieder heimfahren, zu müde für Sport, stattdessen Abendessen und sich vom TV berieseln lassen, bis es Zeit für das Bett ist.
Am nächsten Tag und an allen Folgetagen vollzieht sich dasselbe Spiel. Sollte dieser Mensch dann Stress am Arbeitsplatz haben, sei es Projektdruck oder Streit mit dem Vorgesetzten, dann baut sich der Stress nicht ab. Die Stresshormone kurbeln weiter fröhlich durch die Blutbahnen. Und am nächsten Tag erwartet diesen Menschen eine neue Portion Stress…
Sehr schnell ist dann der aktivierende Stress, der uns dazu befähigt zu handeln, ein chronischer: Täglich belasten uns Themen immer weiter und wir haben das Gefühl, wir können nichts aktiv gestalten. Wir fühlen uns ausgeliefert und handlungsunfähig. Dann ist der Moment erreicht, an dem wir in die Stress-Falle rutschen und es beginnt, ungesund zu werden. In dem Fall chronifiziert die Stressreaktion wie folgt:
Nicht wenige Betroffene versuchen auf ihre Weise mit diesen Folgen zurecht zu kommen und legen ein langfristig betrachtet ungesundes Verhalten an den Tag:
Und wenn das alles nicht ausreicht, wagt auch manch einer den Schritt zu einer härteren Droge, um wieder gut zu funktionieren oder zu entspannen. Dieses maladaptive, sprich ungesunde Verhalten, führt am Ende nur zu noch mehr Problemen.
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Gibt es den Königsweg aus der Stressfalle heraus?**
Die schlechte Nachricht: Es gibt diesen einen goldenen Weg leider nicht. Die gute Nachricht: Jeder kann auf seine Weise einen neuen Umgang mit belastenden Situationen lernen und sein Verhalten aktiv verändern. Das ist allerdings nichts, was ‘mal eben’ erledigt ist, und auch ein Standardvorgehen ist nicht angezeigt. Der Prozess ist sehr persönlich.
Welches Vorgehen das richtige ist, zeigt in der Regel die Antwort auf die Frage, ob man sich selbst noch befähigt fühlt, seinen normalen Alltag gut zu bewältigen. Mancher Patient steht stabil im Leben. Lediglich an der einen oder anderen Stelle ‘piekst’ ihn der Stress ein bisschen. Diesem Typ ist meist mit einem akut-präventiven Coaching geholfen. Es richtet sich darauf aus, die akute Thematik zu bearbeiten. Außerdem zeigt es präventiv Wege auf, damit zukünftige Stressbelastungen nicht erneut stark energiezehrend wirken.
Es liegen häufig große Abstände zwischen den Coaching-Terminen (monatlich, alle zwei Monate), da die Grundstabilität ja gegeben ist.
Hat sich dagegen eine Symptomatik entwickelt, die stark belastend wirkt, sodass der oder die Betroffene nur unter erheblichem Kraftaufwand in der Lage ist, den eigenen Alltag zu bewältigen, sollte ein psychotherapeutisches Vorgehen erwogen werden. In diesem Fall erfolgt die (ambulante) Begleitung engmaschiger. Erstes Ziel sollte sein, die akute Symptomatik (zum Beispiel Schlafstörungen) zu lindern. Sobald genügend Kraft vorhanden ist, sollten die Ursachen für das massive Stresserleben erarbeitet werden. So kann der Schritt in eine Entwicklung erfolgen, die dazu beitragen soll, zukünftig auf eine andere, gelassenere, gesündere, lebendigere Weise mit belastenden Themen umzugehen.
Da das Stresserleben und das Entwickeln von Stresssymptomen ein sehr individueller Vorgang ist, sollen im Folgenden kurze Denkanstöße Impulse geben, bei Stress in verschiedene Richtungen zu schauen. Zusammen mit einem Coach oder einer Therapeutin/ einem Therapeuten können konkrete Schritte geplant werden.
Denkanstöße bei Stress:
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