Artikel 22/01/2024

Was während der Psychotherapie eigentlich passiert

Dipl.-Psych. Britta Bettendorf Psychologe, Heilpraktiker für Psychotherapie
Dipl.-Psych. Britta Bettendorf
Psychologe, Heilpraktiker für Psychotherapie

Um zu wissen, wie der therapeutische Prozess in der personzentrierten Therapie eigentlich funktioniert, ist es wichtig, den Begriff Selbstkonzept zu verstehen - und wie sich das Selbstkonzept verändert.

Das Selbstkonzept ist unsere Einstellung zu uns, also zu unserem Selbst. Wie jede Einstellung hat es drei Komponenten: die kognitive, die affektive und die Verhaltenskomponente. Zur kognitiven Komponente gehören unser Wissen und unsere Überzeugungen über unser Selbst; zur affektiven Komponente gehören unsere Gefühle und Bewertungen über unser Selbst; und zur Verhaltenskomponente gehört unsere Tendenz, uns so zu verhalten, wie es unsere Gedanken und Gefühle über unser Selbst eben auch wiedergeben.

Siluette eines Mannes, die mit Begriffen wie "beliefs", "narritives" und "abilities" gefüllt ist um zu zeigen, dass der Mensch aus vielem Facetten besteht. Zwei Hände halten ein Smartphone, das einen stilisierten Kopf in Weiß mit schwarzem Gekritzel in der Mitte zeigt. Darüber steht "Psychology"

Das Selbstkonzept ist stabil und widerstandsfähig

Die Tatsache, dass unser Selbstkonzept so viele verschiedene menschliche Erfahrungen enthält, trägt zur Stärke unseres Selbstkonzeptes bei, zu seiner Stabilität und auch zu seiner Widerstandsfähigkeit gegenüber Veränderungen. Diese Stabilität wird noch dadurch verstärkt, dass die Komponenten innerhalb des Selbstkonzeptes dazu neigen, aus einem Guss zu sein, das heißt, sie drücken die gleiche Art von Bewertung aus oder gehen in die gleiche Richtung. Wir nennen dieses Phänomen innere Konsistenz. Würden wir eine bestimmte Meinung, einen bestimmten Glauben oder ein Gefühl isolieren, könnten wir das relativ leicht infrage stellen und ändern. Die Tatsache jedoch, dass die Komponenten des Selbstkonzeptes eben aus einem Guss sind (in etwa wie ein Bündel von Stöcken), macht es schwierig, ein einzelnes Element zu ändern. Im Grunde muss das gesamte Selbstkonzept geändert werden - oder gar nichts.

Das Selbstkonzept ist also eine Einstellung wie jede andere auch: Jede Meinung oder Überzeugung, jedes Gefühl und jede Bewertung über unser Selbst könnte durchaus veränderbar sein - wenn wir sie nur isoliert bekommen könnten. Aber das können wir nicht. Diese Komponenten sind alle miteinander verbunden und unterstützen sich gegenseitig gegen die Bedrohung, die von einer Veränderung ausgeht. Es kann sein, dass wir unser Selbstkonzept nicht mögen, aber dennoch wird dieses Selbstkonzept versuchen, sich selbst zu bewahren, indem es alles hübsch beieinander hält, also seine innere Konsistenz bewahrt. Inkonsistenz ist bedrohlicher für den Menschen als einfach nur Probleme: Wir können leichter damit fertig werden, uns schlecht zu fühlen, als mit Verwirrung.

Freundliche, aber dennoch naive Versuche, unsere Einstellung zu ändern, bekommen wir oft angeboten: Freunde weisen uns auf unsere guten Seiten hin und sagen uns, dass wir zu hart gegen uns selbst sind. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass diese Versuche erfolgreich sind - einfach, weil der Rest unseres Selbstkonzeptes diese Invasion von neuen Gedanken abwehrt. Das Selbstkonzept findet viele Wege, diese neuen Gedanken zu verwerfen oder abzuwerten.

Das Selbstkonzept durch Dissonanz verändern

Die personzentrierte Therapie arbeitet an der Veränderung des Selbstkonzepts, indem sie innerhalb dieses Selbstkonzeptes einen (kleinen) Widerspruch erzeugt und das Bündel an Stöcken ein wenig auseinandernimmt. Diesen Widerspruch nennen wir Dissonanz. Und diese Dissonanz wird über drei Wege erzeugt:

Erstens werden dem Klienten im Laufe der Therapie individuelle Erfolge und Errungenschaften bewusst, die sein Selbstkonzept zuvor geleugnet hat. Die erste Reaktion des Klienten besteht oft darin, dass er sich vor dieser Erkenntnis fürchtet und sogar versucht, diese Erfolge weiter zu verleugnen. Nach und nach erkennt ein Klient jedoch, was er zuvor verleugnet hat, weil es mit seinem negativen Selbstkonzept unvereinbar war, und lässt es langsam zu. Dieser Prozess ist in etwa so wie der, in dem in einer Muschel eine Perle entsteht: Wenn ein Fremdkörper, beispielsweise ein Sandkorn in eine Austernmuschel gelangt und von ihr nicht mehr ausgespült werden kann, dann versucht die Muschel, diesen Fremdkörper abzukapseln. Sie umschließt ihn mit dem gleichen Material, aus dem sie die Innenseiten ihrer Schalen bildet - und im Lauf der Zeit entsteht aus dem Fremdkörper eine Perle. Bei dem Klienten entsteht im Lauf der Zeit aus dem verleugneten Material ein neues, flexibleres Selbstkonzept.

Diese kleinen, dissonanten, nicht zu leugnenden Elemente stellen sich der Angst des Selbstkonzepts entgegen. Und wenn sie nicht von den reaktionären Kräften des Selbstkonzepts verdrängt werden, werden sie die Veränderung im Klienten beeinflussen.

Ein zweiter Weg, mit dem die personzentrierte Therapie eine Dissonanz innerhalb des Selbstkonzepts erzeugen kann, ist der bei dem sog. übernommenes Material innerhalb der Selbststruktur neu bewertet wird. Der Klient hat ja oft zahlreiche Überzeugungen übernommen, die die allgemeine Negativität seines Selbstkonzeptes widerspiegeln, die aber nicht unbedingt mit den eigenen Erfahrungen über sich selbst zusammenhängen.

So kann er zum Beispiel Bewertungen seiner Eltern übernommen haben, die seine mangelnden intellektuellen Fähigkeiten betonten. Im Laufe der personzentrierten Therapie kann dem Klienten dann bewusst werden, dass die Quelle für diesen Aspekt des Selbstkonzepts eher übernommenes Material ist, also von außen kommt und gar nicht seine eigenen Erfahrungen sind. Wieder einmal wurde ein dissonantes Sandkorn in das negative Selbstkonzept gestreut, das im Lauf der Therapie zu einer Veränderung führt.

Der dritte Weg, über den die Dissonanz in der personzentrierten Therapie verstärkt wird, ist das, was wir als Gegenkonditionierungs-Effekt bezeichnen. Diesen Effekt erreicht die Therapeutin durch ihre bedingungslose positive Wertschätzung. Auch wenn der Klient sich insgesamt absolut negativ sieht und darstellt, schließt sich die Therapeutin dieser Beurteilung nicht an. Sie reagiert stattdessen kontinuierlich mit bedingungsloser positiver Wertschätzung auf den Klienten.

Anfangs mag sich der Klient damit unwohl fühlen, weil er diese Wertschätzung seiner Meinung nach nicht verdient hat. Es kann sogar sein, dass er mit seinem Verhalten gegenüber der Therapeutin - ohne es wirklich zu merken - darauf abzielt, ihre Ablehnung hervorzurufen. Wenn jedoch die bedingungslose positive Wertschätzung der Therapeutin von Dauer ist, sieht sich der Klient mit der Hypothese konfrontiert, dass er eine Person von Wert sein könnte. Dies ist vielleicht das stärkste dissonante Element, welches in das Selbstkonzept des Klienten hinein rieselt. Und es ist auch der Grund dafür, warum in der personzentrierten Therapie die Beziehung als wichtigster Veränderungsfaktor angesehen wird.

Dies sind drei Quellen der Dissonanz, die durch personzentrierte Therapie hervorgerufen werden. Der Klient ist jedoch nicht nur ein passiver Teilnehmer an der Erzeugung von Dissonanz. Die Dissonanz ruft nämlich eine Spannung hervor, ein Unbehagen, das am besten reduziert werden soll. Wie? Indem die dissonanten Elemente negiert werden. Wieder verleugnet oder negativ bewertet werden. Die Veränderungsprozesse, die durch die Therapie in Gang gesetzt wurden, werden von reaktionären Kräften begleitet, die versuchen, die Dissonanz zu reduzieren. Das Selbstkonzept hat begonnen, sich zu wehren, um die Dissonanz zu verringern.

Das Selbstkonzept versucht, sich dagegen zu wehren

Jeder zaghafte Versuch des Klienten, sein Selbstkonzept infrage zu stellen, stößt nun auf ein ausgeklügeltes Sperrfeuer von reaktionären Schutzsystemen. In gewisser Weise würde sich der Klient ja schon gerne verändern, aber der Organismus kann das Risiko nicht eingehen, das vertraute und in gewisser Weise “sichere” Selbstkonzept aufzugeben, auf dem das ganze Leben beruht. Der Klient hat dieses Selbstkonzept ja als eine Anpassung an schwierige Bedingungen (in der Regel in der Kindheit) entwickelt. Wenn er das Risiko eingeht, diese Einstellung zu ändern, bedeutet das - existenziell gesehen - die Möglichkeit seiner Vernichtung.

Das Geschick und die Professionalität der Therapeutin bestehen darin, sich nicht von den Schutzsystemen des Klienten unterkriegen zu lassen, denn in diesem Stadium ist dieses reaktionäre Schutzsystem viel stärker als die vorwärts gerichtete Aktualisierungstendenz, die nach Veränderung und Verbesserung strebt.

Das große Geheimnis des therapeutischen Prozesses ist der Übergang von diesem Kampf innerhalb des Selbstkonzepts zur tatsächlichen Veränderung des Selbstkonzepts. Dieser Übergang findet in der späten Mitte des Beratungsprozesses statt, wenn der Klient ein bedeutendes Maß an Selbstakzeptanz gewonnen hat. Bei vielen Klienten scheint diese Veränderung auf zwei unterschiedlichen Wegen zu erfolgen, die Dave Mearns, ein britischer Professor für personzentrierte Psychotherapie, als osmotische und seismische Veränderung bezeichnet.

Kleine Veränderungen, die sich summieren

Bei der osmotischen Veränderung scheint sich nicht viel zu ändern, bis der Klient eines Tages merkt, dass alles anders ist. Ein Klient beschrieb es so: “Es fühlt sich wirklich seltsam an … nichts hat sich verändert und doch ist alles anders.” Es ist so, als ob der Klient sich der Veränderung des Selbstkonzepts, die sich langsam entwickelt hat, gar nicht bewusst gewesen ist.

Der Prozess hat sich so allmählich vollzogen, dass jeder einzelne Schritt nicht wahrnehmbar war - aber dann kommt ein Zeitpunkt, an dem der Klient die Auswirkungen der gesammelten Schritte bemerkt. Auch wenn die Therapeutin diese Veränderung selbst deutlich sieht, würde es wenig bringen, es dem Klienten zu sagen. Denn bei dieser Form des Veränderungsprozesses ist der Punkt, an dem die Veränderung stattgefunden zu haben scheint, lediglich der Punkt, an dem der Klient eine veränderte Bezeichnung für sich selbst annimmt. In Wirklichkeit ist die Veränderung schon seit einiger Zeit im Gange.

Veränderungen, die wie ein Erdbeben sind

Zu anderen Zeiten oder bei anderen Klienten ist die Veränderung dramatischer: Der Klient macht plötzlich eine enorme Veränderung in Bezug auf sein Erleben, also in Bezug darauf, wie er ein Ereignis oder sich selbst erlebt. Die beste Metapher für diese Form der Veränderung ist die einer seismischen Veränderung: Es ist, als ob sich der Druck in Richtung Veränderung unter der Oberfläche aufgebaut hat und dann ganz plötzlich ein großes Erdbeben stattfindet.

An diesem Punkt ist der Klient oft erstaunt, was er in der Vergangenheit so alles toleriert und rationalisiert hat. Die seismische Veränderung ist wie ein plötzlicher Sinneswandel, bei der die Veränderung oft so dramatisch ist, dass jemand auch von einem Extrem der Einstellung zum anderen wechseln kann. Eine erfahrene Therapeutin ist darauf eingestellt, dass ein Klient danach auch eine scheinbar festgefahrene Phase erleben kann. Die Veränderung war dann wohl so dramatisch, dass es einige Zeit braucht, sich neu zu orientieren und das Leben neu zu gestalten. Es kann auch sein, dass das Pendel über sein optimales Gleichgewicht hinaus geschwungen ist und später eine Korrektur stattfindet.

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