Der Begriff „neue Blutverdünner“ oder auch „neue orale Antikoagulanzien“ (NOAK) geht durch die Presse - je nach Blickwinkel mal mit positiver, mal mit negativer Beurteilung. Es geht dabei um Medikamente die das Blut weniger gerinnbar machen. Im Volksmund ist das Prinzip als Blutverdünnung bekannt. Generationen von Patienten und deren Familien kennen den Wirkstoff Phenprocoumon. Was ist das für ein Medikament? Worin besteht der Unterschied zu den „neuen Blutverdünnern“? Und warum wird zum Teil heftig darum gestritten?
Im Jahre 1922 wurde in den USA und in Kanada ein Rindersterben beobachtet, das durch innere Blutungen oder durch Blutverlust infolge kleinster Verletzungen verursacht wurde. Der Zufall führte zu der Entdeckung, dass die Tiere mit vergorenem Süßklee aus Silos gefüttert worden waren. Erst 19 Jahre später wurde die eigentliche Ursache der „Süßklee-Krankheit“ erkannt. Man fand eine chemische Substanz, die durch den Gärungsprozess im Süßklee entsteht und die Bildung von Blutgerinnseln vollständig unterdrückt. Sie wurde Dicumarol genannt. Weitere Verbindungen mit dieser Eigenschaft (die Gruppe der Cumarine) wurden entdeckt und konnten bald künstlich hergestellt werden. Die erste kommerzielle Anwendung erfolgte als Nagetier-Bekämpfungsmittel. Es dauerte weitere 13 Jahre, um den medizinischen Nutzen der Cumarine zu erforschen. Der erste prominente Patient, der 1955 nach einem Herzinfarkt damit behandelt wurde, war der amerikanische Präsident Eisenhower. Heutzutage werden diese Verbindungen hauptsächlich zur Verhinderung von Schlaganfällen aber auch zur Behandlung von Thrombosen und Lungenembolien eingesetzt.
Cumarine wirken in der Leber. Dort werden Eiweiße (Proteine) gebildet, die für die Entstehung von Blutgerinnseln gebraucht werden. Einige dieser sogenannten Blutgerinnungsfaktoren benötigen zu ihrer Entstehung das Vitamin K. Cumarine unterdrücken die Wirkung des Vitamin K. So entstehen nicht funktionsfähige Faktoren, mit denen die Blutgerinnung nicht vollständig ablaufen kann. Aus diesem sehr komplizierten Prozess ergeben sich für die medizinische Behandlung wesentliche Nachteile: Es dauert einige Tage nach Beginn der Medikamenten-Einnahme, bis der gewünschte Effekt auf die Blutgerinnung eingetreten ist. Die Wirkung der Cumarine ist abhängig von der Ernährung - je mehr Vitamin K im Essen enthalten ist, desto höher muss die Dosis des Medikamentes sein. Und die Menschen reagieren unterschiedlich auf Cumarine. Das bedeutet: Für jeden Patienten muss die individuelle Dosis herausgefunden werden. In der Praxis sind daher regelmäßige Blutentnahmen notwendig, um die tatsächliche Gerinnbarkeit oder „Verdünnung“ des Blutes im Labor zu testen und die Dosierung des Medikamentes anzupassen.
Die „neuen Blutverdünner“ unterscheiden sich von den Cumarinen durch ihre chemische Struktur und die Wirkungsweise. Sie greifen nicht in einen Eiweiß-Produktionsprozess ein, sondern verbinden sich direkt mit bestimmten Blutgerinnungsfaktoren und hemmen deren Funktion. Damit erklärt sich der Begriff von den „direkten Antikoagulanzien“. Das hat praktische Folgen: Der Effekt der „neuen Blutverdünner“ setzt wesentlich schneller ein - schon wenige Stunden nach der ersten Einnahme - klingt aber auch deutlich früher wieder ab. Schon die verpasste Einnahme einer Tablette könnte dazu führen, dass der Schutz vor Blutgerinnseln verloren geht. Ob das im Alltag tatsächlich eine Rolle spielt, ist allerdings noch nicht wirklich bekannt. Weiterhin haben die „neuen Blutverdünner“ den Vorteil einer festen Beziehung zwischen Dosis und Wirkung. Das heißt, es gibt keine Unterschiede zwischen den Patienten und keine Abhängigkeit von den Ernährungsgewohnheiten. Die Dosis muss also nicht individuell angepasst werden. Damit entfällt auch die Notwendigkeit zur regelmäßigen Labor-Kontrolle. Blutentnahmen zur Überwachung der Therapie sind nicht erforderlich und auch nicht möglich, da die Standard-Tests zur Bestimmung der Blutgerinnbarkeit bei den neuen Medikamenten nicht angewendet werden können. Es gibt Ärzte und Patienten, die sich dadurch verunsichert fühlen. Denn was man nicht kontrollieren kann, kann auch nicht beurteilt werden. Ob sich dieser Umstand langfristig als Nachteil herausstellt, bleibt abzuwarten. Ein wesentlicher Unterschied, zwischen den „alten“ und den „neuen“ Medikamenten besteht im Preis - die „neuen Blutverdünner“ sind um ein vielfaches teurer. Eine weitere Herausforderung für unser Solidarsystem. Das ist wahrscheinlich der eigentliche Grund für die ein oder andere hitzige Debatte.
Eines steht fest: Die Behandlung mit „Blutverdünnern“ ist eine anspruchsvolle medizinische Aufgabe bei der Vor- und Nachteile individuell abgewogen werden müssen. Langfristig werden sich die „neuen“ Medikamente durchsetzen.
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