Team jameda
Ärzte haben einen besonderen Blick auf die Welt der Medizin. Damit Patienten hinter die Kulissen des Gesundheitswesens blicken können, stellt jameda Frau Nicole Große-Holtforth interessante Fragen zu ihren Erfahrungen als Psychotherapeutin.
jameda: Frau Große-Holtforth, was hat Sie motiviert, Psychotherapeutin zu werden und warum haben Sie sich für Ihre Spezialgebiete entschieden?
Frau Große-Holforth: Mich faszinieren Menschen, Lebenswege, die individuellen Entscheidungen, Beziehungen und Bindungen schon seit jeher. Früh war ich mit Krankheit, Tod, dem Sinn des Lebens und Lebenskrisen in meinem Umfeld von nahen Angehörigen und Freunden konfrontiert. Erst später habe ich bemerkt, dass mich der Umgang mit schwierigen Themen im Leben erst wirklich in den Kontakt zum Leben bringt.
Mich treibt ein tiefes Interesse an, zu erforschen, was helfen kann, mit sich in Verbindung zu sein, und zu sich selbst zu kommen. Seinen Platz zu finden, was bei der Entfaltung fördert, wohlwollend unterstützt – zu wachsen.
Auf diesem Weg habe ich mir meine Themen angeschaut und selbst erfahren, Trauma zu bewältigen, Ängste anzuschauen, den Mut gefasst, lange Sehnsüchte in die Tat umzusetzen und Entscheider in meinem Leben zu sein. Alle meine Ausbildungen wurden zusammengeführt durch die integrale somatische Psycholgie, die alle Aspekte des Menschen umfasst und unterstützt.
jameda: Worin liegt Ihr Tätigkeitsschwerpunkt und was macht diesen so besonders?
Frau Große-Holforth: Der Schwerpunkt meiner Tätigkeit ist die Integration von unbearbeitetem, herausfordnernden Erlebten. Das bedeutet, sich anzuschauen, was war und was ist, ohne es ändern zu wollen oder es abzuspalten oder wegzumachen. Oft sind das herausfordernde Situationen, in denen wir nicht fühlen durften oder konnten und etwas wegmachen mussten.
Hilfreich ist, im Hier und Jetzt zu sein. Unser Nervensystem, der Körper, Gefühle, Verspannungen, Schmerzen und Empfindungen leiten uns den Weg in einer Sitzung, Unbewältigtes anzuschauen und zu bearbeiten. Das Geschehene kann neu verhandelt werden – es wird integriert – heute auch als Ordnungstherapie bekannt.
Dazu arbeite ich beziehungsorientiert und emotionsfokussiert mit körperorientierten, achtsamkeitsbasierten Ansätzen der Psychotherapie. Es ist immer wieder erstaunlich, dass ein neues Gleichgewicht durch Neuordnungen des Nervensystems entstehen kann.
jameda: Gibt es im medizinischen Bereich ein Vorbild, das Ihre Laufbahn besonders geprägt hat?
Frau Große-Holforth: Zu meiner Schulzeit habe ich mich mit Imagination, Heilungsweisen alter Völker und den Theorien von Carl-Gustav Jung auseinandergesetzt.
In meinem ersten Beruf als Krankenschwester in der Onkologie hat mich mein damaliger Chefarzt sehr beeindruckt und nachhaltig geprägt. Er sprach Patienten in Würde und Respekt an und konnte sie in ihrer Selbstwirksamkeit lassen.
jameda: Wo sehen Sie in Ihrem Fachgebiet die größten Herausforderungen für die Zukunft?
Frau Große-Holtforth: Die Herausforderungen unserer Zukunft sehe ich in der größer werdenden Distanz zu sich selbst und unseren Mitmenschen im privaten und beruflichen Umfeld. Wir sind soziale Wesen, uns stärken Bindungen, Beziehungen und Halt und wir lernen durch physische Begegnungen gesunde Grenzen.
Unsere schnelllebige Zeit, zunehmende technisierte Umgebung wie z. B. das Homeoffice begünstigen eine Entfremdung der eigenen Gefühlswelt und zu anderen Menschen. Durch sozialen Rückzug und Isolierung und virtuelle Begegnungen fehlt der direkte Kontakt zu einem anderen Nervensystem und dessen Spiegelneuronen. Das bedeutet, wir haben weniger Möglichkeiten zu lernen, sich – das Nervensystem – zu regulieren.
Das führt zu niedrigerer Stresstoleranz – Resillienz. Im Alltag erschöpfen wir schneller, können uns nur langsam beruhigen und fühlen uns überfordert und schneller ausgebrannt.
jameda: Was wird an Ihrem individuellen Umgang mit Ihren Patienten besonders geschätzt?
Frau Große-Holtforth: Als Feedback höre ich, dass die Menschen, die zu mir kommen, sich schnell wohl und vertraut fühlen. Durch meine offene Art fällt es ihnen leichter, sich mit ihren Anliegen zu öffnen und sich zu zeigen.
Für viele war es wichtig, Halt zu finden, den sie hier in der Begleitung erfahren haben. Und was ich auch immer wieder von meinen Klienten / Patienten höre ist, dass ich sie durch diese Klarheit die Schwierigkeiten, Verstrickungen und Muster erkennen lassen und sie für sie sichtbar machen kann. So bekommen sie einen Zugang zu verdrängten Gefühlen und Erlebtem. Dadurch können neue Einsichten gewonnen werden und sich neue, ordnende Wege aufzeigen.
jameda: Was schätzen Sie an Ihren Patienten besonders?
Frau Große-Holtforth: Den Mut sich Hilfe zu holen und sich einer anderen Person anzuvertrauen und sich zu öffnen.
jameda: Gibt es ein besonderes Patientenerlebnis, das Sie nie vergessen werden?
Frau Große-Holtforth: Da gibt es viele Erlebnisse, an die ich mich gerne erinnere und die wertvoll für mich sind. Sie haben alle gemein, dass es tiefe Momente der Begegnung waren, oft ohne Worte. Stille kostbare Momente, in denen spürbar wird: Da ist etwas tiefer verstanden worden und an seinen Platz gefallen. Das verändert die Sichtweise und Akzeptanz und wirkt mitunter lebensverändernd.
Zwei Erlebnisse möchte ich gerne stellvertretend teilen, die mich berührt haben: das strahlende Gesicht einer Patientin mit sehnlichstem Kinderwunsch, die nach einigen Terminen freudestrahlend berichtete, sie sei schwanger. Ihr Glück war für mich spürbar, als ich ihr zu Beginn des Termins die Tür öffnete.
Als zweites möchte ich von der Begleitung eines mittlerweile erwachsenen Jungen erzählen, der einige schulische Probleme durch Mobbing erfahren musste. In einer Sitzung kam er in Kontakt mit seinen Fähigkeiten und Begabungen, ohne diese zu bewerten. Bis dahin hatte er diese Fähigkeiten und Begabungen als Hindernisse und Gründe für seine Mobbingerfahrungen angesehen. Er entschied, die Schule zu wechseln und studierte später Psychologie.
jameda: Welchen Gesundheitstipp möchten Sie unseren Lesern mit auf den Weg geben?
Frau Große-Holtforth: Täglich einmal Kontakt zu sich aufzunehmen. Mir ist es wichtig, jeden Tag einen kleinen Moment Zeit für mich einzuplanen und zu schauen, wie es mir geht. Das können ein paar Atemzüge während des Abspülens sein oder auch mal 20 Minuten allein auf dem Sofa. Ein kleiner oder größerer Check-in.
Worauf ich meine Aufmerksamkeit richte: Was fühle ich gerade und wo? Was bewegt mich? Was ist angesprochen und berührt? Darf das so sein? Will ich es verändern?
Ich widme mich meinen Gedanken ohne einzusteigen und lasse sie ziehen. Dabei hilft mir häufig die Vorstellung, jeder Gedanke ist ein einfahrender Zug im Bahnhof und ich lasse ihn einfach vorbeifahren. Das stärkt die eigene Mitte und die Akzeptanz.
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