Team jameda
eigentlich soll es ja in dieser Kolumne um Glück gehen. Daher mag es überraschen, wenn dieses Mal viel von Depression die Rede ist. Aber glücklicher wird man nicht nur durch mehr ‘Ausschläge’ auf der Stimmungsskala nach oben, sondern auch, wenn man die ‘Niederschläge’ nach unten besser versteht, den freien Fall abdämpft und die Märsche auf der Talsohle der Seele verkürzt. Und ich rede nicht über Sie, lieber Leser, aber über ihren Nachbarn, Freund oder Verwandten. Denn bei 4 Millionen Deutschen, die unter der großen Spaßbremse Depression leiden, kennt jeder jemanden, oder zumindest jemand, der jemanden kennt…
Depression, die bösartige Traurigkeit
'Das Leben ist voller Elend, Einsamkeit und Leiden – und dann ist es auch noch viel zu schnell vorbei.'
Woody Allen
Was ist das Gegenteil von Glück? Unglück?
Nein. Wer unglücklich ist, fühlt ja noch etwas. Das Gegenteil von Glück ist für mich die Depression, das Gefühl der Gefühllosigkeit. Alles ist sinnlos, hoffnungslos, emotionslos. Wer unter Depressionen leidet ist schlaflos, antriebslos und wäre am liebsten sich selber ganz los. Die Depression ist die häufigste seelische Störung überhaupt, und auch die teuerste. Sie kostet viele Menschen das Leben durch Suizid, sie kostet viele Jahre Lebensqualität, in denen sich Patienten nur quälen und sie kostet die Gesellschaft Milliarden, weil Depressive lange ausfallen als Eltern, Lehrer, Partner oder Steuerzahler. 5 Millionen sollen in Deutschland depressiv sein, wobei strittig ist, wie stark die Krankheit zugenommen hat oder die Aufmerksamkeit für die Diagnose.
Der Begriff „Depression“ bezeichnet in Medizin, Psychologie und Alltag häufig ganz unterschiedliche Phänomene: von einer leichten Verstimmung bis hin zu einer schweren psychischen Störung. Betroffene und Therapeuten haben es daher schwer, sich darauf zu einigen, wovon wer gerade spricht. Der Biologe Lewis Wolpert, emeritierter Professor vom University College London, erfuhr am eigenen Leib, welches Stigma der Depression bis heute anhaftet. Eindringlich schildert er in seinem Buch „Anatomie der Schwermut“ seine Scham und die seiner Angehörigen sowie die Hoffnung, dass die Erkrankung biologisch bedingt sei und er sie somit nicht selbst verschuldet haben könnte. Wolpert meint, wer dieses schlimme Leiden mit Worten beschreiben könne, habe es nicht selbst durchlebt. Es sei die schmerzlichste Erfahrung seines Lebens.
Die Neurologen und Psychiater unterteilen die Depression in Schweregrade, je nach dem wie stark die Symptome sind und wie lange sie schon anhalten. Eine Diagnose bei sich selber stellen zu wollen, macht wenig Sinn. Die eine Art der Depressiven neigt zur permanenten Selbstbeobachtung und zieht sich damit herunter, andere ignorieren dagegen jede seelische Komponente und rennen manchmal jahrelang wegen Herz, Rücken oder Verdauungsproblemen zum Arzt, bis einer die richtige Diagnose stellt. Ob es „DIE“ Depression gibt, oder ob es nicht verschiedene Erkrankungen sind, die sich erst in der Erschöpfung am Ende täuschend ähnlich sind, wird in der Wissenschaft heißt diskutiert.
Was passiert bei einer Depression im Gehirn? Die komplizierten Gleichgewichte der verschiedenen Signalstoffe sind gestört. Maßgeblich fehlen Serotonin und Noradrenalin, das erste signalisiert normalerweise Freude, das zweite Antrieb. Beides fehlt dem Depressiven. Zudem fehlt es an Nervenwachstum, genau so wie sich der Depressive von seiner Außenwelt zurückzieht, so haben auch die Nervenzellen im Hirn keine Lust mehr sich groß anzustrengen und neue Kontakte herzustellen. Was zuerst kommt, der äußere oder der innere Rückzug ist wie bei Henne und Ei schwer zu klären. Aber das fehlende „Netzwerken“ im Kopf erklärt sehr gut, warum eine Behandlung mit Medikamenten nie sofort anschlägt. Denn bis sich die Synapsen wieder berappelt haben und neugierig auf andere zugehen, vergehen gerne mal zwei bis vier Wochen. Ein sehr häufiger Fehler von Ärzten und Patienten ist, aber genau in dieser Zeit das Präparat abzusetzen oder auf ein anderes zu wechseln, noch ehe man wirklich wissen kann, ob das erste wirksam ist.
Welchen „Sinn“ macht eine Krankheit der Sinnlosigkeit? Am ehesten den einer Notbremse. Permanenter Stress und Überforderung führen zum Rückzug aus dem aktiven Leben, der Betroffene spart Energie und bringt andere dazu, ihn zu unterstützen. Wer einmal mit schwer Depressiven zu tun hatte, weiß, dass es ein Stadium gibt, wo alle gut gemeinten Ratschläge wie „raff dich doch einfach auf“ oder „reiß dich zusammen“ nichts nützen und nur alle Beteiligten noch hilfloser machen, und bisweilen auch wütend. Depression ist eine Krankheit, kein Versagen. Aber ein Teil unserer Hilflosigkeit ist hausgemacht. Denn auch wenn es klar eine genetische Veranlagung zur Schwermut gibt: Depression kommt meist nicht aus heiterem Himmel, sondern aus trüben Gedanken.
Martin Seligman kam über die Depressionsforschung zur positiven Psychologie. Seine bahnbrechende Entdeckung war die „gelernte Hilflosigkeit“. Hunde, die ohne Grund Stromstöße bekommen, und der „Strafe“ in ihrem Käfig nicht ausweichen können, ergeben sich ganz schnell in ihr Schicksal. Sie legen sich apathisch hin und machen keine Versuche, sich der unangenehmen Situation zu erwehren. Selbst wenn dann die Klappe des Käfigs geöffnet wird, bleiben sie im Käfig liegen. Sie haben so sehr gelernt, hilflos zu sein, dass sie keinen Schritt mehr in die eigene Freiheit unternehmen.
Depressive Menschen erschaffen sich ihren Käfig in Gedanken, und kommen dann auch nicht mehr aus ihren Denkgittern und Endlosschleifen heraus: „Ich bin wertlos, meine Welt ist düster, meine Zukunft ist hoffnungslos“. Der Therapeut Aaron Beck entdeckte, dass man diese Gedankenmuster unterbrechen kann und entwickelte daraus die „Kognitive Verhaltenstherapie“. Und wenn dann das „ich bin ein schrecklicher Mensch“ das nächste Mal auftaucht, kann ich lernen, diesen Gedanken einzufangen, zu hinterfragen, abzuklopfen, was da wirklich dran ist, und das selbstzerstörerische Potential dahinter zu entkräften. Das wirkt! Kognitive Verhaltenstherapie ist eine der wissenschaftlich wirksamsten Methoden, Depressionen zu behandeln.
Eine aus meiner Sicht sehr spannende Methode ist die Kombination mit Entspannungs- und Meditationstechniken. Bei der Muskelentspannung lernt der Depressive den Stress, der die Depression mit ausgelöst hat, körperlich zu lockern. Und bei der Achtsamkeits-Meditation sich von seinen negativen Gedanken zu distanzieren und sie vorbeiziehen zu lassen, in heiterer Gelassenheit.
Ergänzt werden die Erfolge der oben genannten Methoden noch neuerdings durch die „Interpersonelle Therapie IPT“ die weniger den Umgang mit den eigenen Gedankenschleifen übt, sondern vielmehr den Umgang mit anderen Menschen. Weil andere Menschen einen großen Einfluss auf unser Wohlbefinden haben, lohnt es sich zu trainieren, wie man mit anderen gut auskommt und auch deren Gefühle zu verstehen, nicht nur die eigenen.
Wenn gar nichts mehr geht und Depressive sich selber gefährden, muss stationär behandelt werden. Dass früher alles besser war, gilt weder im Leben noch in der Psychiatrie. Viele der Vorurteile gegen stationäre Aufenthalte sind 40 Jahre alt und so überholt wie der Film „Einer flog übers Kuckucksnest“. Ich kann mir auch Schöneres vorstellen als dort zu sein, aber wer ernsthaft psychisch krank ist, erlebt es oft als eine Erleichterung einen Ort zu haben, wo sich Profis, Pflegekräfte und Mitpatienten mit dem auskennen, was ihn gerade überfordert. Und auch wissen, dass man aus dem Loch und aus der Klinik wieder rauskommt.
Und welche Rolle spielen Medikamente?
Bei leichter Depression braucht man sie nicht. Da helfen drei Dinge, die auch jedem Gesunden gut tun. Bewegung, sozialer Kontakt und Zuwendung von Freunden oder eben einem Therapeuten. Bei schwerer Depression ist oft ein Gespräch gar nicht möglich, und da können Medikamente sehr helfen, eine psychotherapeutische Situation überhaupt erst herzustellen.
Momentan gibt es einen bitteren Streit unter den Fachleuten, welche Medikamente wie wirksam sind, und welchen Anteil die Placebowirkung hat. Könnte man nicht allen Placebos geben? Nein, denn sobald „auffliegt“, dass es sich um Scheinmedikamente handelt, ist ihre Wirkung dahin. Echte Antidepressiva dagegen wirken davon unberührt weiter. Und auch in der Verhinderung eines Rückfalls sind Medikamente mit Wirkstoff besser als Medikamente ohne Wirkstoff und besser als nichts gegen den Rückfall zu nehmen.
In Amerika gehört es zum Lifestyle „Prozac“ zu nehmen, in Deutschland gehört es zum Lifestyle „Psychopharmaka“ in Bausch und Bogen zu verdammen. Beides ist meiner Ansicht nach wenig hilfreich. Zum einen hellen stimmungsaufhellende Medikamente nur die auf, die auch düster in die Zukunft schauen. Wer nicht depressiv ist, hat wenig Vorteile von Antidepressiva.
Wer aber schwer depressiv ist, tut sich keinen Gefallen, keine Medikamente zu nehmen. Sie haben zwar ein paar Nebenwirkungen wie Mundtrockenheit oder auch Erektionsstörungen, aber verglichen mit der „Nebenwirkung“ der Depression, sich an nichts zu erfreuen und sich umzubringen, sind sie eindeutig das kleinere Übel. Machen Antidepressiva süchtig?
Nein. Und das müssen Sie mir nicht glauben, davon können Sie sich selbst überzeugen.
Für alles, was Süchtig macht, gibt es einen Schwarzmarkt. Im Entzug sind Abhängige bereit, alles für ihren Stoff zu geben, und deshalb gibt es auch immer Dealer, die genau diese Stoffe anbieten und daran verdienen. Es gibt in jeder größeren deutschen Stadt einen regen Handel mit Pillen uns Drogen: von Ecstasy und Kokain über Beruhigungsmittel wie Rohypnol bis zum Heroin, was direkt über die Vene ihr Belohnungszentrum erreicht. Aber fragen Sie mal einen Dealer oder einen Junkie, ob er ein Antidepressivum dabei hat. Er wird die Frage nicht verstehen. Aber er hat die Antwort für Sie: Antidepressiva machen nicht süchtig. Sie machen keinen Kick, weil sie mehrere Wochen brauchen um zu wirken, und sie machen keinen körperlichen Entzug, wenn man sie nicht mehr nimmt.
Selbst im Vergleich zu anderen europäischen Ländern ist das Klischee über die deutsche Psychiatrie „die setzen doch alle unter Medikamente“ schlichtweg falsch. Schaut man sich an, wer wie viel verordnet und schluckt, sind Deutsche und Niederländer am sparsamsten. Italien, Belgien, Spanien, überall wird mehr Stimmungsdoping betrieben als bei uns. Franzosen nehmen von manchen Pillen sogar dreimal so viel wie wir. Von wegen „laissez-faire“, unsere Nachbarn kämen mit ihrer massiv nachgeholfenen Lässigkeit nie durch eine Dopingkontrolle.
Nach allem was wir heute über die Ursachen, den Verlauf und die Behandlungsoptionen bei Depression wissen können, lehne ich mich jetzt weit aus dem Fenster, und ich bekomme auch kein Geld dafür, aber:
Dass sich jemand mit einer angeborenen Neigung zur Kurzsichtigkeit eine Brille verschreiben lässt, regt niemanden auf. Wenn sich jemand mit einer angeborenen Neigung zur Schwarzsichtigkeit und Freudlosigkeit ein Medikament verschreibt, das seine Hirnchemie korrigiert, kommt uns das immer noch wie ein Frevel vor. Warum eigentlich? Weil wir meinen, nur ein schlechtes Gewissen ist ein gutes Gewissen? Weil wir das „wahre“ leidende Selbst wichtiger finden als ein glückliches Leben? Das beste Mittel gegen das Unglück bleibt Glück.
Aber wer bei einem Patient mit einer gesicherten Diagnose, nach allen vergeblichen Versuchen mit Gesprächen, kognitiver Verhaltenstherapie, Meditation und Kitzeln immer noch vehement gegen den gezielten Einsatz von Medikamenten ist, kommt mir kurzsichtig vor.
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