In Deutschland klagt jeder 3. Patient in orthopädischen Praxen über Rückenbeschwerden. Trotz ständiger Fortschritte in der medizinischen Technik und vielfältigen Therapieansätzen hat sich hier in den letzten Jahren wenig geändert.
Während heute Behandlungen der anatomischen Formveränderungen, wie z.B. bei Bandscheibenvorfällen oder verschleißbedingte Veränderungen der Wirbelsäule oder Bandscheiben im Vordergrund stehen, so werden Störungen der Funktion bedingt durch muskuläre Defizite oder Koordinationsstörungen zu wenig berücksichtigt.
Typische Situationen in der täglichen Praxis sind z.B. Patienten mit einem großen Bandscheibenvorfall, die jedoch keinerlei Beschwerden haben oder Patienten, die zahlreiche Ärzte konsultiert haben, die aber weder im Röntgen noch in der Kernspintomographie einen pathologischen Befund aufweisen und dennoch unter massiven Beschwerden leiden. In solchen Fällen wäre eine Untersuchung der sensomotorischen Haltungskoordination und Muskeltonussteuerung sowie der Muskelketten zu empfehlen.
Was versteht man unter Sensomotorik und was bedeutet sie für unseren Bewegungsapparat?
Die Sensomotorik ist die Grundlage unserer Haltungs- und Bewegungssteuerung. Die Muskeltonussteuerung erfolgt dabei über die Integration sensomotorischer Regelsysteme. Bereits geringe Störungen im Regelkreis unseres Nervensystems führen zu psycho-neuro-muskulo-skeletalen Reaktionen.
Haltungssteuerung:
Die Haltungssteuerung basiert auf zwei Steuerungssystemen. So setzt sich die Kopfsteuerung aus dem räumlichen Sehen, dem Gleichgewichtssinn, dem Nackenfeld sowie dem Kiefergelenk und der Schlussbißstellung zusammen. Die Füße sind die Basis unserer Haltungssteuerung, gewissermaßen unsere Erdung. Dieses aktive, sensomotorische Greiforgan beeinflußt über aufsteigende neuromuskuläre Kettenreaktionen ebenfalls unsere Körperhaltung.
Wie funktioniert das?
Die Proprioception (Körperwahrnehmung) erfolgt reflexartig über spezifische Strukturen an der Fußsohle mit Weiterleitung an das Rückenmark und Kleinhirn. Mechanorezeptoren sowie sensible Endorgane in den Muskeln und Sehnen bilden die Reizinformationen des Fußes zur Bewegungskoordination.
Die sensorische Rückmeldung aus den Muskelspindeln verläuft u.a. über schnellleitende Fasern direkt über das Rückenmark zur motorischen Nervenzelle. Die Hauptaufgabe der Muskelspindeln liegt in der Rückmeldung der jeweiligen Längen-, Lage- und Spannungsänderung der Muskulatur an das zentrale Nervensystem.
Genau umgekehrt arbeiten die Golgi-Sehnen-Organe. Funktionell ist diese gegenseitige Wechselwirkung als Balanceakt der neuronalen Ansteuerung zu sehen.
In den Gelenkkapseln, den Bändern und in der Haut sind ebenfalls Rezeptoren, die die Lage der Gelenke melden oder Zug- oder Druckkräfte übermitteln. Diese Proprioceptoren werden durch die Exteroceptoren ergänzt. Dazu gehört das räumliche Sehen, der Hör- und Gleichgewichtssinn, die Kopfkontrolle des Nackenfeldes, die craniomandibuläre Funktion sowie die Viscerorezeption über mechanische, chemisch-sensitive oder fasziale Rezeptoren sowie die Thermorezeption.
Die sensomotorische Steuerung wird also aus dem Abgleich proprioceptiver und exterozeptiver Impulse stets von zentralen Kontrollmechanismen situativ angepaßt und in eine adaequate muskuloskelettale Bewegung umgesetzt.
Sensomotorische Fehlsteuerungen lösen im muskuloskelettalen System Schmerzen und Fehlbelastungen aus, wodurch langfristig Formveränderungen entstehen.
Die Mehrzahl der Beschwerden des Bewegungsapparates spielt sich im Muskel- und Bindegewebe ab. Die meisten dieser Beschwerden sind funktionell bedingt. Dies erklärt die eingangs erwähnte häufig festzustellende Diskrepanz zwischen Befund des bildgebenden Verfahrens und den Beschwerden der Patienten in der täglichen Praxis.
Symptome funktioneller Beschwerden bedingt durch sensomotorische Fehlsteuerungen können sein
Fehlstatik der Wirbelsäule oder des Beckens wie z.B. eine torsionsskoliotische Fehlhaltung
Schulter- und Beckenschiefstand, Beckentorsion oder Beckenverkippung
unspezifische Rückenschmerzen
Schmerzen an oder in der Wirbelsäule
Rückenschmerzen nach oder trotz Bandscheibenoperation
muskuläre Verspannungen oder muskuläre Dysbalancen
Spannungskopfschmerzen oder chron. Schmerzen im Nacken
Triggerpunktschmerzen
chronischer Kreuzschmerz
Fuß- oder Knieschmerzen
Reizzustände am Trochanter major (Hüftregion), an der Kniescheibe oder an der Fußsohle
Es sollte also z.B. beim Kreuzschmerz nicht nur lokal die verspannte Muskulatur z.B. durch eine Injektion oder eine physikalische Therapie nach der DAWOS-Methode (DA WO’S weh tut wird behandelt) behandelt werden, sondern vor allem der sensomotorische Regelkreis mit Unsachenerforschung falls erforderlich auch unter Einbeziehung aller betroffenen Fachgebiete abgeklärt werden.
Hierzu ist ein Netzwerk von ganzheitlichen denkenden und arbeitenden Kollegen der Zahnmedizin / Kieferorthopädie, der Augenheilkunde und Optometrie, der HNO-Heilkunde und der Orthopäden, aber auch speziell ausgebildeter Osteopathen und Physiotherapeuten notwendig.
Je nach funktioneller Ursache kommt dann u.U. eine spezielle Brillenversorgung und/oder Sehtraining, eine Aufbiß-Schienen- oder Spangentherapie, eine craniosacrale Therapie, ein gesundheitsorientiertes Krafttraining oder eine medizinische Kräftigungstherapie, ein proprioceptives Training, ein Fußmuskeltraining oder eine Therapie mit speziellen sensomotorischen Aktiveinlagen in Betracht.
Therapieoptionen:
Brillenversorgung
Aufbiss-Schienen-Therapie
propriorezeptives Training
Kraft und Koordination
Med. Kräftigungstherapie
gesundheitsorient. Krafttraining
Fußmuskeltraining
sensomot. Einlagentherapie
Eine Behandlung der Fußstatik findet in einer orthopädischen Praxis häufig statt, da 80% der Patienten eine Störung der fußgewölbebildenden, den Abrollvorgang steuernden Fußmuskeln haben. 90% der Babys haben bei der Geburt gesunde, altersentsprechende Füße. Beim Eintritt in das Schulalter liegt bei ca. der Hälfte der Kinder bereits eine Fußfehlform und Abrollstörung bedingt durch eine familiäre Veranlagung, durch falsches Schuhwerk und vor allem durch zu wenig Barfußlaufen auf unterschiedlichen Oberflächen vor.
Diesen Patienten kann mit einer afferenzverstärkenden, sensomotorischen Einlagentherapie geholfen werden. Dabei verbessern diese Sohlen nicht nur die Fußfunktion und damit die Fußstatik, sondern optimieren auch die Gesamtkörperhaltung und die Bewegungskoordination.
Durch einen sensomotorischen Kraft- und Koordinationstest kann ein speziell ausgebildeter Arzt den Muskeltonus an der Fußsohle individuell überprüfen. Dabei werden vor allem die kurzen und langen Fußmuskeln untersucht. Anhand der speziellen Tests werden schwache Fußmuskeln identifiziert und dann die korrespondierenden Einlegesohlenareale mit Kautschukgranulat befüllt.
Diese Untersuchung ist seit längerem durch die Akademie Deutscher Orthopäden und den Berufsverband der Orthopäden anerkannt.
Durch spezielle Meßverfahren wie der dreidimensionalen lichtoptrimetrischen Haltungsvermessung, der Elektromyographie und der instrumentellen Stand- und Ganganalyse werden neben der sorgfältigen manuellen Untersuchung die jeweiligen Ursachen erkannt und der Verlauf der jeweiligen Therapie kontrolliert.
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