Team jameda
Manchmal werden Studien benutzt, um Patienten in die Irre zu führen. Was der aufgeklärte Patient wissen muss.
Wie wichtig ist die Krebsvorsorge? Wie gut wirkt ein neues Bluthochdruckmedikament? Bei wichtigen gesundheitlichen Entscheidungen spielen Studien eine große Rolle. Aber nur wer Zahlen zu deuten weiß, kann eine gute Entscheidung für seine Gesundheit treffen. jameda fragte Dr. Jenny, die wissenschaftliche Leiterin des Harding-Zentrums für Risikokompetenz, warum Zahlen verdreht werden, was die häufigsten Gesundheitsirrtümer sind und wie sich Patienten vor Fehlentscheidungen schützen können.
jameda: Das Internet ist voller Studien, die dies und jenes belegen, sich zum Teil widersprechen und vor allem Autorität suggerieren. Denn was durch eine Studie bewiesen scheint, muss auch so sein. Oder nicht?
Dr. Jenny: Es ist immer wichtig zu prüfen, woher die Zahlen stammen. Sind sie wissenschaftlichen Studien oder lediglich nicht repräsentativen Umfragen entnommen? Gibt es vergleichbare Studien, die Ähnliches belegen? Falls ja, ist es ein gutes Zeichen, wenn die Quellen angegeben sind.
Wichtig ist auch zu wissen, dass es ganz verschiedene Studientypen mit unterschiedlicher Aussagekraft gibt. Patienten sind häufig nicht in der Lage, die Qualität einer Studie zu beurteilen. Umso wichtiger sind verlässliche Interpretation.
jameda: Wie können Patienten Zahlenmaterial, das in einem Gesundheitsmagazin erscheint, richtig einordnen?
Dr. Jenny: Grundsätzlich ist bei Zahlen Vorsicht geboten, da die Qualität der Gesundheitsinformationen und damit auch die Verlässlichkeit der dargestellten Zahlen stark variiert. Oft sind vergleichbaren Häufigkeiten informativer, zum Beispiel: „Bei sechs von 100 Menschen hat sich die Symptomatik nach der Einnahme eines bestimmten Medikaments gebessert, während zwölf Menschen nach der Einnahme eines anderen Medikaments Linderung erfuhren.“
jameda: Oft liest man von relativen Angaben wie „doppelt so viele Patienten berichten von einer Besserung“. Sind sie vertrauenswürdig?
Dr. Jenny: Relative Angaben wie diese können sehr irreführend sein, daher ist ein kritischer Blick auf jeden Fall gefragt. Denn mit „doppelt so viele“ könnte „sechs von 100 statt drei von 100 Patienten“ oder auch „60 von 100 statt 30 von 100“ heißen. Eine große Verbesserung wäre nur im letzten Fall gegeben.
jameda: Immer wieder werden Statistiken und Studienergebnisse in den Medien falsch dargestellt. Beispiel „Darmkrebs“: Neulich machte die Schlagzeile die Runde, dass sich das Darmkrebsrisiko von Menschen, die jeden Tag 50 Gramm Wurst zu sich nehmen, um 18 Prozent erhöht. Klingt dramatischer als es ist, denn bei dieser Angabe handelt es sich um ein relatives, nicht um ein absolutes Risiko. Tatsächlich steigt das Darmkrebsrisiko durch häufigen Wurstkonsum von fünf auf sechs Prozent. Wie kommen so unterschiedliche Zahlen zustande?
Dr. Jenny: Diese Meldung basierte auf einer bisher nicht veröffentlichten Überblicksarbeit der WHO, die kein vollständiges Bild der Beweislage liefert. Solche Zahlen zu kommunizieren, ist zum einen nicht 100-prozentig verantwortungsbewusst von der WHO und darüber zu schreiben wiederum nicht sehr kompetent von den Medien, die vielleicht die vollständige Analyse hätten abwarten sollen. Sensationsjournalismus hat in diesem Fall gewonnen, die Wahrheit hat leider verloren.
jameda: Warum werden Zahlen häufig falsch dargestellt?
Dr. Jenny: Manche Autoren wissen nicht, wie irreführend relative Risiken sein können. Aber sowohl Wissenschaftler als auch pharmazeutische Unternehmen und Medien streuen auch bewusst irreführende Informationen. Relative Risiken werden häufig benutzt, um Verbesserungen oder Verschlechterungen aufzubauschen. Wissenschaftler möchten ihre Forschung bewerben, die pharmazeutische Industrie ihre Produkte und die Journalisten ihre Artikel.
jameda: Was meinen Sie, überwiegt die korrekte Darstellung oder die Fehlinterpretation medizinischer Statistiken in den Medien?
Dr. Jenny: Wir haben diese Frage bisher noch nicht systematisch untersucht. Ich würde jedoch schätzen, dass leider irreführende Berichterstattungen die Regel darstellen. Schließlich ist der Kampf um die Aufmerksamkeit der Leser hoch und korrekte Darstellungen sind manchmal nicht so spannend wie die irreführenden Varianten.
jameda: In welchem Bereich kommt es am häufigsten zu Falschdarstellungen medizinischer Studien?
Dr. Jenny: Auch das ist schwer zu sagen. Ich kann allerdings bestätigen, dass es in vielen anderen Forschungsgebieten ähnliche Probleme der Darstellung gibt. Aus der Medizin sind besonders frappierende Beispiele im Bereich der Krebsfrüherkennung zu finden.
jameda: Was läuft da schief?
Dr. Jenny: Krebsfrüherkennung wird irreführenderweise häufig als „Vorsorge“ bezeichnet. Damit kann fälschlicherweise der Eindruck entstehen, dass regelmäßige Screenings den Ausbruch einer Krebserkrankung verhindern können, obwohl das nur auf vereinzelte Verfahren zutrifft. Leider wissen zu wenige Menschen, dass es sich lediglich um die Früherkennung einer bereits vorliegender Krebserkrankungen handelt. Noch weniger kennen die teilweise gravierenden Risiken einer Überdiagnostik und -therapie wie etwa die Krebsbehandlung von eigentlich gesunden Menschen. Das bedeutet, es werden beispielsweise Zellveränderungen diagnostiziert und behandelt, die sich eventuell folgenlos von alleine zurückgebildet hätten.
jameda: Was sind Ihrer Meinung nach die gravierendsten Gesundheitsirrtümer, die durch Fehlinterpretationen entstanden sind?
Dr. Jenny: Neben der „Krebsvorsorge“ ist das Thema „Impfen“ brisant: Leider gibt es immer noch Menschen, die ihre Kinder nicht impfen lassen, da sie glauben, dass Impfungen sogar Autismus auslösen können. Das ist bewiesenermaßen kompletter Unfug und sowohl für die betroffen Kinder als auch für ihr Umfeld gefährlich.
Ein weiteres Vorurteil: Viele Menschen fürchten sich zu sehr vor fettigem und zu wenig vor gezuckertem Essen. Der Irrtum, dass man einseitige Diäten befolgen muss, um gesund zu sein, ist ebenfalls weit verbreitet. Leider lässt sich mit der Aussage, dass eine ausgewogene Ernährung und Sport gesund sind, kein Geld machen. Mit fettfreien Produkten allerdings schon, auch wenn sie durch ihren erhöhten Zuckergehalt häufig nicht gesünder sind als die fetthaltigere Variante.
jameda: Was können Patienten tun, um sich vor Gesundheitsirrtümern zu schützen, die durch Fehlinterpretationen entstehen?
Dr. Jenny: Es immer wichtig zu wissen, ob die Quelle der Information vertrauenswürdig ist. Wurde eine Broschüre beispielsweise von der pharmazeutischen Industrie erstellt? Außerdem sollte man sich von nackten Wahrscheinlichkeiten wie „50 Prozent Verbesserung“ auf keinen Fall erschrecken lassen, sondern immer fragen, worauf sich die Verbesserung bezieht und wie vielen Patienten von 100 wirklich Linderung erfuhren. Patienten sollten außerdem vergleichen, wie häufig ein Symptom ohne die Anwendung einer medizinischen Maßnahme auftritt und wie häufig es trotz Behandlung zu beobachten ist. Egal ob beim Lesen der Zeitung, im Gespräch mit Bekannten oder mit dem Arzt - es ist immer wichtig, mitzudenken und Fragen zu stellen.
jameda: Wissenschaftler sind von Natur aus zahlengetrieben, aber auch Patienten lassen sich gern von großen Zahlen beeindrucken. Geht dabei das Bauchgefühl verloren?
Dr. Jenny: Beides muss sich nicht ausschließen. Wenn ich beispielsweise weiß, dass ein gewisses Medikament in 30 von 100 Fällen zu sexuellen Problemen führen kann, gibt mir diese Information noch nicht die Antwort auf die Frage, ob ich dieses Medikament einnehmen sollte. Bei der Entscheidung kann ich immer noch auf mein Bauchgefühl hören, ob diese Zahl in meinen Augen groß oder klein ist, ob ich glaube, dass ich mit sexuellen Störungen umgehen kann, und ob mir mögliche Nebenwirkungen die Hauptwirkung des Medikaments wert ist. Oder ich kann mich bei der Arztsuche auf Fakten wie die Ausbildung stützen, aber auch auf mein Bauchgefühl, das mir sagt, ob ich einen Arzt vertrauenswürdig finde.
jameda: Gesundheitliche Entscheidungen zu treffen, kann sehr schwierig sein, besonders wenn die Folgen das weitere Leben stark beeinflussen werden. Wem sollten Patienten dabei vertrauen, ihrem Arzt, der Studienlage oder ihrem Bauchgefühl?
Dr. Jenny: Das Ziel jedes medizinischen Entscheidungsprozesses ist eine gemeinsame Entscheidungsfindung von Arzt und Patient. Blindes Vertrauen ist keine gute Lösung. Idealerweise haben sich Arzt und Patient über die Studienlage informiert. Und natürlich spielt auch das Bauchgefühl eine Rolle.
jameda: Vielen Dank für das Interview!
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